Tutzing:Miniwelt nach Maß

Lesezeit: 3 min

Sie steuern Züge und Tageszeiten, und wenn sie es gewittern lassen, wird niemand nass. Ein Besuch in der 82,5 Quadratmeter großen Landschaft des Modelleisenbahnclubs Tutzing.

Benedikt Warmbrunn

Die Landschaft soll bewusst kein Abbild sein, die Züge fahren daher vom Bonner Hauptbahnhof nach Neustadt, und von dort weiter in die Berge, nach Baden-Baden. Seit 1996 fügt Vereinsgründer Martin Huber ein Detail nach dem anderen hinzu. Foto:Georgine Treybal (Foto: Georgine Treybal)

Ein Tag hat 24 Minuten. Jeden Abend gibt es einen Jahrmarkt, jeden Abend brennt es im gleichen Haus, in jeder Nacht wird ein Nacktfilm gedreht. Und schon den zweiten Tag hintereinander ist das Handwerkerauto in die Böschung gerauscht, wieder an dem gleichen Parkplatz, offensichtlich abgelenkt von der Frau, die nahezu unbekleidet aus ihrem Wohnwagen herausschaut. "Mensch, Mensch, Mensch", sagt Roland Mader, er schüttelt den Kopf. Vorsichtig klemmt er das Handwerkerauto zwischen Daumen, Zeige- und Mittelfinger, drückt mit der anderen Hand ein bisschen an der Karosserie herum, setzt den Wagen auf die Straße.

Das Handwerkerauto mit dem Gerümpel auf dem Dach dreht wieder seine Runde, vorbei an Lagerhallen, Fachwerkhäusern, Bergen, Bahnhöfen, auf der endlosen Fahrt durch eine andere Welt. Auf der endlosen Fahrt durch die Welt von Roland Mader und Martin Huber.

Der Weg in diese andere Welt beginnt auf einem Kiesparkplatz in den Hügeln nahe Tutzings, es dämmert. Über eine Auffahrt geht es in eine Scheune, durch mehrere Türen, über der letzten hängt ein Schild mit der Aufschrift "Deutsche Reichsbahn". Im hintersten Raum der Scheune steht diese andere Welt auf Holzplatten, begrenzt von Glaswänden und einem Geländer. In dieser Parallelwelt ist es heller Nachmittag. Ganz am Rand, hinter dem Autohaus, versteckt sich eine graue Erhebung, in dieser Welt groß wie ein Gebirge, aber die Erhebung bewegt sich: ein grauer Wuschelkopf. Mader steht auf, läuft an einer Siedlung vorbei, schneller als das Feuerwehrauto. Mader trägt ein blaues T-Shirt, darauf ist eine silberne Lokomotive geklebt, über ihr steht: "Modelleisenbahnclub Tutzing". Sein Händedruck ist kräftig, nicht wie der eines filigranen Tüftlers.

Mader und Huber treffen sich in der Scheune beinahe täglich. 1996 begann Huber gemeinsam mit seinem Vater Alois mit dem Bau der Anlage, wenig später kam Mader hinzu. Sie teilen die Leidenschaft für Eisenbahnen, für ihre Modellwelt, in der sie jedes Detail bestimmen können. 2004 gründeten sie den Verein, der zurzeit 16 Mitglieder hat. Die meisten von ihnen finanzieren den Klub, indem sie im Vereinsheim im Vorzimmer ein Bierchen trinken; nur Huber und Mader arbeiten an der Anlage. Montags und donnerstags dürfen auch Nicht-Mitglieder vorbeischauen, gerade in den nächsten Wochen, kurz vor Weihnachten, erwarten Mader und Huber Besucher, die sich auf der Suche nach einem Geschenk inspirieren lassen wollen.

Die Eisenbahnwelt des Vereins erstreckt sich über 82,5 Quadratmeter. Auf ihren Platten haben Huber und Mader genug Platz, um ihre Fantasie auszuleben, denn, das ist ihnen wichtig: Sie bauen keine Landschaft nach. Die Züge fahren bei ihnen vom Bonner Hauptbahnhof nach Neustadt und von dort weiter nach Baden-Baden, alles in einer Bergwelt. Rund um Bonn ist die Industrie angesiedelt, Baden-Baden liegt am höchsten. Es gibt nur eine Regel, sagt Huber: "Wir wollen kein Militär." Keine Panzer, keine Soldaten. Es ist eine friedliche, heile Welt.

Huber, ein Maler- und Lackierermeister, steht gerade im Regiebereich direkt neben der Tür, von dort steuert er die insgesamt 56 Züge, er lässt sie in die Schattenbahnhöfe in der Unterwelt fahren, bestimmt ihr Tempo und ob sie in Bonn halten, in Neustadt, in Baden-Baden oder überhaupt nicht. Von hier aus hat er auch die Tageszeit im Auge. Eine Stunde hat sechzig Sekunden. Es ist nun 18 Uhr, es wird dunkel im Zimmer. Huber findet, dass das eine gute Zeit für ein Gewitter ist. Im Gebirgseck, in dem die Gipfel besonders hoch sind, blitzt und donnert es, ein leises Plätschern ist zu hören. Niemand wird nass. Es ist überhaupt eine Welt der Annehmlichkeiten. Keine Schule, keine Verbrecher, keine betrunkenen Randalierer auf dem Jahrmarkt, keine Polizeistation. Das einzige Polizeiauto ist bei Mader zu Hause, er muss es reparieren. Mader, ein Zahnelektronik-Meister, baut in die kleinen Autos eine Magnetismus-Technik ein, so dass sie über die Straßen fahren können. Pro Auto braucht er 50 bis 60 Stunden. "Wir verschwinden aus unserem Alltag, können für ein paar Stunden alles vergessen", sagt er. Billig ist das nicht, die Technik für ein Auto kostet etwa 200 Euro, eine kleine Figur einen Euro - es gibt knapp 15 000 Männchen. Die Anlage ist für 220 000 Euro versichert.

Nach zwei Stunden räumt Mader die Autos ein, Huber schaltet die Anlage ab, der Tag endet nachmittags. Zurück durch das Vorzimmer, die Auffahrt herunter, auf den Kiesparkplatz. Die große Welt, die die Miniatur-Welt von Huber und Mader umgibt, ist gerade kalt, dunkel und nebelig.

© SZ vom 21.11.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: