Anne Theiss aus Tutzing übernimmt in ihrem Alltag viele Rollen: Journalistin, persönliche Referentin, Ehefrau und Mutter zweier Kinder. In ihrem Buch "Die Abwertung der Mütter" geht es um ihre Rolle als Mutter. Ausgehend von ihren persönlichen Erfahrungen beleuchtet die 38-Jährige aus einer wirtschaftspolitischen Perspektive kritisch, was es bedeutet, Mutter zu sein.
Es gibt bereits zahlreiche Bücher über Mütter. Warum hat es Ihres noch gebraucht?
Die Bedeutung des Potenzials von Müttern für die Wirtschaft, für den Wohlstand kommt in anderen Publikationen oft zu kurz. Damit meine ich den großen Vorteil, den es für uns alle hätte, wenn jungen Müttern die Berufstätigkeit erleichtert wird. Die Mehrheit von ihnen möchte nämlich mehr arbeiten. Ein weiterer Anstoß waren meine persönlichen Erfahrungen.
Inwiefern hält der Staat denn Mütter vom Arbeitsmarkt fern?
Vor allem durch die mangelnde Verlässlichkeit der Kinderbetreuung. Ebenso übernehmen in Deutschland Frauen mehr als 80 Prozent der Care- Arbeit, das ist im weltweiten Vergleich überdurchschnittlich viel. Dadurch wurde während der Pandemie große Belastung auf Mütter abgewälzt, ohne dass diese Leistungen gleichermaßen gesellschaftliche Aufmerksamkeit erhielten. Und danach gab es keine Entlastung, es ging einfach weiter mit Mängelperspektiven: Zum Schulstart fehlen bundesweit bis zu 40 000 Lehrerstellen, und ebenso mangelt es an knapp 400000 Kitaplätzen. Offenbar wird eine verlässliche Kinderbetreuung politisch nicht mit der nötigen Ernsthaftigkeit umgesetzt.
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Was hat die Familienpolitik versäumt, um Mütter und Familien mehr zu unterstützen?
Mich hat schockiert, wie viele Grabenkämpfe geführt wurden, anstatt Visionen einer modernen Familienpolitik zu entwerfen und umzusetzen. Die kürzlichen Debatten um die Kindergrundsicherung glichen einer Sandkastenszene meiner Kinder: Lisa Paus will die große Schaufel, Christian Lindner gibt ihr nur die kleine, Olaf Scholz weist kurz zurecht, hält sich dann ähnlich einem großen Bruder aus allem heraus. Und als die Lage sich etwas beruhigt, kommt die SPD mit dem großen Wassereimer, thematisiert das Ehegattensplitting und macht vor allem Lindner nass. Diese Beobachtungen waren fast belustigend, aber sind leider auch wahnsinnig tragisch. Weil es hier um große Erschöpfung geht, die vor allem Mütter erleben. Jede vierte ist inzwischen kurbedürftig und kämpft mit Erkrankungen, deren langfristige Ausmaße sich laut Psychologen gar nicht abschätzen lassen. Geschweige denn deren Einflüsse auf die Kinder. Dabei sind die Probleme und ebenso Lösungen seit Jahren bekannt. Doch es geht kaum etwas voran.
Sie argumentieren, dass Rollenbilder einen großen Teil dazu beitragen, die Mütter "abzuwerten". Welche meinen Sie?
Da geht es mir vor allem darum, dass in Deutschland das Kindeswohl immer noch stark an dem "Weiblichen" orientiert ist. Das zeigt sich im hohen Anteil der Care-Arbeit, den Frauen übernehmen. Die Wissenschaft sagt aber: Für ein Kind ist es wichtig, dass es beständige Bindungen hat. Ob diese zu einem Mann oder zu einer Frau bestehen, ist egal. In Deutschland sehen wir gern das Land der Innovationen und des Wissens, deshalb finde ich es erstaunlich, dass aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse in der Betreuungsrealität und bei Familien noch so wenig umgesetzt werden. Ebenso, dass kaum gesehen wird, dass Hausfrauen oder gering in Teilzeit beschäftigte Mütter heutzutage gesetzlich schlechter abgesichert sind. Im Falle einer Trennung etwa gilt die Unterhaltspflicht nur noch wenige Jahre. Und trotzdem wird Müttern oft ein schlechtes Gewissen gemacht, wenn sie frühzeitig, oder gar in Vollzeit wieder arbeiten wollen. Vor allem die ältere Generation adressiert ihre Vorstellungen von -"Du musst zuhause bleiben, du musst für das Kind da sein"- viel mehr an die Frau als an den Mann.
In den vergangenen Jahrzehnten stehen Themen wie Gleichberechtigung und Chancengleichheit öffentlich viel mehr zum Diskurs. Außerdem zeigt sich statistisch eine Zunahme von Männern, die in Elternzeit gehen. Tut sich nicht schon einiges?
Laut Zahlen ist es leider noch nicht einiges. Und man hat nach der Pandemie gemerkt, dass auch Väter, selbst die progressiven unter ihnen, zu großen Teilen ihre Ansichten, was Gleichberechtigung angeht, revidieren. Wenn man merkt, dass die Belastung sehr groß ist, scheint es in diesem Land erstaunlich schnell zu passieren, dass man sagt: "Früher war es besser." Aber im Hinblick auf unsere Zukunft, die stark von dem sogenannten Humankapital abhängig ist, müssen wir tradierte Rollenbilder hinter uns lassen. Die Wirtschaft ändert sich in hohem Tempo, aber die gesellschaftliche Transformation - vor allem bei der Berufstätigkeit von Frauen - hinkt hinterher. So, dass es zunehmend zu einer Gefahr für unseren Wohlstand wird.
Welche Rolle spielen Väter in der derzeitigen Lage und was können sie beitragen?
Also erstmal: Väter sind super, die engagierten sowieso. Ich will mit meinem Buch nicht polarisieren, sondern ausschließlich um Verständnis werben. Gleichberechtigung heißt nun einmal: Gleicher Anteil an Hausarbeit, gleiche Verantwortung für die Kinder. Es wird oft zu werdenden Eltern gesagt: Unterhaltet euch vor der Schwangerschaft über eure Pläne. Dabei ist es ebenso wichtig, dass man sich nach der Geburt des Kindes regelmäßig dazu unterhält. Ich will übrigens auch keine Modelle ausspielen. Eine Mutter, die aus voller Überzeugung zuhause bei ihrem Kind bleiben will, soll das bitte tun. Man sollte nur hinterfragen, ob es an ihren individuellen Wünschen oder auch an sozialem Druck und der Belastung liegt. Und da sind die Männer gefordert. Sie müssen genauer hinschauen und sowohl die Belastung ihrer Frau hinterfragen, als auch ihre eigene Rolle. Und dann offensiv unterstützen und mit modernem Beispiel vorangehen.
Sie schreiben ja zudem aus der Position einer Mutter, die ein Kind mit Behinderung hat. Inwiefern wurden Ihnen vor allem durch diese spezielle Situation strukturelle Probleme nochmal bewusster?
"So wenig echte Inklusion"
Es war zum Beispiel unfassbar schwer, für Ella einen verlässlichen Betreuungsplatz zu bekommen. Als ich einen für sie hatte, es aber in der Einrichtung zu Problemen kam, habe ich mich unsicher gefühlt. Obwohl diese oft gar nichts mit meinem Kind zu tun hatten. Dadurch, dass so wenig echte Inklusion gelebt wird und die Ausbildungen oft nicht ausreichend sind, fühlt man sich als Mutter von einem Kind mit Besonderheiten immer wie kurz vor einer Art Abgrund. Immer nicht ganz so sicher wie als Mutter von einem gesunden Kind. Den Vergleich habe ich ja jetzt mit meinem zweiten Kind. Es ist um einiges schwerer für meine Tochter, einen Platz in der "normalen" Gesellschaft zu finden.
Ihr Buch lebt ja davon, dass Sie sich viel auf Ihre persönlichen Erfahrungen beziehen. Was glauben Sie denn, wie verallgemeinerbar sind diese überhaupt? Haben Sie noch mit anderen Müttern gesprochen, die Ihre Erfahrungen teilen?
Ich habe meine persönlichen Erfahrungen einfließen lassen, aber für mich war immer wichtig, dass diese durch Zahlen und Studien belegt sind. Und das sind sie.
Was muss sich denn Ihrer Vorstellung nach vor allem gesellschaftlich verändern, um Müttern eine aktivere Teilhabe zu ermöglichen?
Ich glaube, dass wir mehr darüber sprechen müssen, wie stark tradierte Frauen- und Familienbilder gerade in den älteren Generationen, auch in den älteren Frauengenerationen vertreten sind. Auch darüber, dass wir die eigenen Kränkungen hinter uns lassen müssen. Wenn heutzutage viel mehr Frauen ein anderes Modell leben als früher, hat das bei genauerer Betrachtung gute Gründe. Deshalb braucht es Solidarität für junge, berufstätige Mütter. Die Mehrheit der Wahlberechtigten ist bald über 60 Jahre alt, das muss man sehen und reflektieren: Haben die Mängel in der Kinderbetreuung vielleicht auch damit zu tun, dass sie nicht mehr entscheidend für diese Gruppe sind? Darüber müssen wir sprechen. Wir sind als junge Generation auf die Solidarität der Älteren angewiesen.
Sie schreiben an einer Stelle von "Mechanismen anderer Länder", die Müttern mehr Berufstätigkeit ermöglichen können. Welche sind das konkret?
In Ländern wie Island oder Spanien wird obligatorische Väterzeit an politische Förderungen gebunden. Ich bin kein Mensch, der für Zwang ist, aber wir haben das Elterngeld jetzt schon seit einer Weile und sehen an den Zahlen, dass sich in diesem Zeitraum zu wenig getan hat. Zu wenig, was das Väterengagement angeht. Wir müssen mehr überprüfen, ob die politischen Maßnahmen wirklich das erreichen, was wir brauchen, vor allem in der Geschwindigkeit, in der wir es brauchen. Und da können wir an anderen Ländern sehen, dass die Verpflichtung von Vätern etwas bringt. Die Zahlen in Island finde ich besonders stark: 96 Prozent der Väter nehmen dort Elternzeit. In Deutschland beziehen 44 Prozent der Väter Elterngeld, und nur die wenigsten davon sind länger als zwei Monate bei den Kindern zuhause. Da ist noch Luft nach oben, wir müssen es nur anpacken. Und das am besten schnell.