Junges Theater:Schuld und Bühne

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Die jungen Talente der Schauspielschule Schwarz verausgaben sich auf der Bühne im Starnberger Jugendzentrum "Nepomuk". (Foto: Franz Xaver Fuchs)

Junge Schauspieler haben ein vielschichtiges Stück über die Suche nach der eigenen Identität entworfen. "Schuld ist sowieso nie einer" ist eine düstere Gesellschaftskritik - der die Künstler abseits der Bühne dennoch etwas Positives abtrotzen.

Von Nikolai Vack, Starnberg

Auf einmal stehen alle pöbelnd vor der Bühne und schwenken die Arme nach oben: "Springen, Springen, Springen!", rufen sie unisono in Richtung der Spielfläche. Dort stehen zwei junge Frauen, mit abgesenktem Blick. Ihre Zehenspitzen krümmen sich an der Kante, wenige Zentimeter jenseits des Abgrunds. Springen - oder nicht? Unsicher schauen sie nach rechts, nach links. Alle schreien, sie sind still.

Auf der Bühne sind elf junge Talente der Starnberger Schauspielschule Schwarz zu sehen. "Schuld ist sowieso nie einer", heißt ihr neu konzipiertes Theaterstück. Vergangenen Dienstag haben sie im Starnberger Jugendzentrum "Nepomuk" schon mal eine Kostprobe gegeben, worauf sich die Besucher bei der Uraufführung im Februar einstellen können.

Sie sind von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet und zittern am ganzen Leib. Doch keiner nimmt sie wahr. Und das, obwohl sie von den grellen Scheinwerfern in Licht getaucht werden. Sie wollen gesehen werden. Doch niemand sieht sie. Sie sehnen sich nach Sicherheit, Geborgenheit und Anerkennung. Dinge, für die man in einer anonymen und unübersichtlichen Gesellschaft kämpfen muss - auf der Bühne wie draußen in der "echten" Welt. "Es ist nicht einfach, den Erwartungen der Gesellschaft gerecht zu werden", erklärt Schauspieler Jai Deuster, 21, nach der Aufführung. Wer bin ich? Welche Rolle nehme ich in dieser Welt ein? Diese Fragen verarbeiten die jungen Schauspieler in ihrem Stück.

"Nun muss das Stück auch mal gesehen werden"

"Es ist noch nicht ganz fertig", kündigt Katharina Schwarz vor der Aufführung an. "Wir haben aber gemerkt, es geht in eine Richtung, wo uns die Darbietung vor einem Publikum gut tut." Die erfahrene Schauspielerin hat das Stück in Zusammenarbeit mit den jungen Darstellern auf die Beine gestellt. Im Jahr 2016 hat sie die Schauspielschule Schwarz gegründet. Seither unterstützt sie ihre jungen Talente bei deren Aspirationen auf der Bühne und vor der Kamera.

"Schuld ist sowieso nie einer" basiert auf dem Stück "Unschuld" der 58-jährigen Dramaturgin Dea Loher. Darin versammeln sich Schuld-, Schicksals- und Erlösungssuchende in lose verbundenen Szenen. Es entsteht ein mannigfaltiges Tableau über Schuld, Unschuld und Freiheit. So auch in der Fassung der jungen Starnberger. Manche Passagen des Originals haben sie gestrichen. 18 Seiten Skript sind übriggeblieben. Andere Stellen dagegen haben sie umgeschrieben und ihren jeweiligen Rollen angepasst.

"Jeder von uns hat etwas Persönliches eingebracht", sagt Schauspielerin Emilia Häfner, 19. "Seine eigene kleine Vision", ergänzt Sara Sternefeld, 17. Doch die Kernaussage - die Frage der Schuld - bleibt die gleiche. Wer trägt denn nun die Schuld an all den Ungerechtigkeiten? Das muss sich auch der Zuschauer immer wieder fragen. Ist es die Schuld des Einzelnen? Oder haben wir es doch mit einem kollektiven Versagen zu tun? Besteht denn überhaupt ein Unterschied?

Hinter den jungen Schauspielern steckt ein tatkräftiges Team (v.li.): Wowo Habdank, Katharina Schwarz, Tetiana Mohilnik und Evhen Passchynskyi. (Foto: Franz Xaver Fuchs)

Tatkräftige Unterstützung bei der Konzeption erhielten die jungen Starnberger auch von Regisseurin Tetiana Mohilnik. Die Ukrainerin ist kurz nach ihrer Ankunft in Deutschland vor sechs Jahren dem Team von Katharina Schwarz beigetreten. Vor einem Monat hat sie ihren befreundeten Kollegen aus der Heimat, Evhen Passchynskyi, mit ins Boot geholt, der erst vor kurzem nach Deutschland geflohen ist. Seine Aufgabe ist es, das Theaterstück filmisch zu dokumentieren. Was Mohilnik am gemeinsamen Projekt besonders fasziniert, ist die geschaffene Parallele zwischen den dargebotenen persönlichen Tragödien und der globalen Frage: Warum passiert dieser Krieg? Da gehe es auch viel um Schuld und Unschuld, so die Regisseurin.

Theater als Sprachrohr des Unaussprechlichen

Besonders in Zeiten von Krieg, Flüchtlingskrise, Pandemie und Umweltkatastrophen sei es besonders wichtig, die innere Gefühlswelt nach außen zu transportieren. Theater könne dabei als Sprachrohr des Unaussprechlichen fungieren. "Viele der jungen Menschen haben uns überrascht", sagt Katharina Schwarz. "Wie sie sich geöffnet haben, wie sie reflektiert haben." In von Unsicherheiten geprägten Zeiten könne man auch schnell mal die Hoffnung verlieren. Vertrauen vorauszuschicken in der Manier "wird schon gut gehen", diese Zuversicht empfinde keiner von ihnen. "Deshalb ist es nun an der Zeit, diese Themen zum Ausdruck zu bringen."

Das Ergebnis ist ein düsteres Stück, in dem die Schauspieler wie Spinnen auf der Bühne zucken - gleich einer zitternden Kapitulation vor der verzweifelten Suche nach der eigenen Rolle in der Gesellschaft. Dabei schlüpfen sie von einer Rolle in die nächste - und präsentieren eine Bandbreite an Charakteren. Ein junger Geschäftsmann faselt über Marketingstrategien und darüber, dass man sein Unternehmen so aufbauen müsse, dass es ohne einen läuft. Ein anderer hängt betrunken in der Ecke. Weiter vorne scheint sich eine junge Frau bei der Aufnahme eines Selfies in eine Endlosschleife zementiert zu haben. Ein Gläubiger betet zu Gott. Ein anderer prüft misstrauisch die Ringe an seinen Fingern. Wieder ein anderer tastet nervös die Stellen seines Körpers ab, hinter denen sich seine vitalen Organe verbergen. Unterdessen schallt ein unaufhörliches Handyklingeln durch den Raum.

"Das ist nicht nur eine Herausforderung für den Zuschauer, sondern auch für die Darsteller", sagt der erfahrene Theaterschauspieler Wowo Habdank. Dieser ständige Rollenwechsel bereite selbst denjenigen Schwierigkeiten, die schon viel Bühnenerfahrung mitbringen. "Das erfordert eine enorme Aufmerksamkeit und Wachheit." Auch er gehört zum Team - als derjenige, der einen roten Faden in die vielen Ideen der jungen Darsteller bringt.

"Springen oder nicht?" - Zwei junge Frauen stehen an der Bühnenkante. Das löst eine Bandbreite an Reaktionen bei den übrigen Darstellern aus. (Foto: Franz Xaver Fuchs)

Wieder ein abrupter Szenenwechsel. Nur noch zwei Personen sind auf der Bühne zu sehen. Es scheint, als würden sie jeden Augenblick hinabspringen. Vielleicht, weil genau das ihre Absicht ist. "Tut's nicht", ruft jemand aus den Reihen des Publikums. Der Rest des Ensembles hat sich mittlerweile auf die Ebene der Zuschauer hinunterbegeben. "Ausgerechnet an der Autobahnbrücke", echauffiert sich ein anderer über den Selbstmordversuch der beiden jungen Frauen, den alle im Begriff sind mitzuerleben. Das Spektrum der Reaktionen reicht von Empathie bis hin zur Aufforderung, sich doch endlich hinunterzustürzen. Am Ende der Szene spitzt sich die Lage zu. "Springen, Springen, Springen!", rufen alle unisono.

So ernst die aufgegriffenen Themen auch sind: Den jungen Talenten gelingt es, ihnen etwas Positives abzutrotzen. Besonders bereichernd sei es, sich gegenseitig in seinen Fähigkeiten zu bestärken, so Emilia Häfner. Dieser Zusammenhalt ziehe sich von der ersten Probe bis zum letzten Augenblick auf der Bühne. "Am Ende bleiben wir stehen und fühlen einfach mal."

Das Theaterstück feiert seine Uraufführung am 18. Februar 2023 um 20 Uhr auf der Kulturbühne "Hinterhalt" in Gelting.

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