Starnberg:"Ohnmächtige Wut"

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Die Frauen sind aufgebracht. Die Unsicherheit ist groß. Im Winter 1986/87 demonstrieren die "Mütter gegen Atomkraft" in Buchendorf. (Foto: Franz Xaver Fuchs)

Mütter gehen auf die Straße, das Heu wird knapp und das Dosengemüse auch - Wie das Fünfseenland mit dem Reaktorunfall in Tschernobyl vor 30 Jahren umging, und wie das Unglück bis heute nachwirkt

Von Christine Setzwein, Starnberg

Am Montag, 28. April, zwei Tage nach dem schrecklichen Reaktorunfall in Tschernobyl, beschäftigt sich die Titelseite der Starnberger Neuesten Nachrichten mit dem Förderverein Südbayerisches Schifffahrtsmuseum, dem Unfalltod eines jungen Gilchingers und den Spielergebnissen der Freizeitkicker. Am Dienstag dann eine gute Nachricht: In den Weinen, die im Landkreis Starnberg verkauft und ausgeschenkt werden, wurde kein Methanol gefunden. Immerhin. Es dauert bis zum 2. Mai, bis die erste Schlagzeile über Tschernobyl zu lesen ist: "Bürger im Fünfseenland über Strahlen besorgt". Eine akute Gefahr für den Menschen bestehe nicht, hieß es da noch, obwohl private Messungen von Wissenschaftlern bereits eine zigfache Erhöhung der Radioaktivität in Luft und Wasser ergeben haben. Am darauffolgenden Wochenende hat es 25 Grad, in den Badegeländen und Biergärten tummeln sich Einheimische und Ausflügler - und Strahlenexperten warnen davor, Kinder in Sandkästen oder auf Wiesen spielen zu lassen. Erst eine Woche nach dem Reaktorunfall werden sich die Menschen der Katastrophe bewusst.

Am 5. Mai spritzt die Feuerwehr die freien Flächen auf den Starnberger Schulgeländen ab, um sie zu "entseuchen". Der Kindergarten am Tannenweg lässt die Kinder nicht mehr ins Freie. Der Tierschutzverein rät von Spaziergängen mit Hunden ab. Georg Scheitz von der Molkerei Scheitz in Andechs fährt zweimal täglich mit Milchproben nach Neuherberg in das Institut für Strahlenhygiene und lässt den Wert von Jod 131 messen.

Informationsveranstaltungen der Grünen und des Bund Naturschutz ziehen Hunderte Bürger an. Das Landratsamt warnt vor dem Genuss von Freilandgemüse und Milch direkt vom Bauernhof, die Supermärkte verzeichnen Hamsterkäufe von Tiefkühlkost und Gemüsekonserven, von Trockenmilch, Mineralwasser und Butter-Altbestand. In den Gärtnereien stagniert der Absatz, die Pflanzen landen auf dem Kompost oder auf Sonderdeponien. Silofutter und Heu gehen zur Neige, viele Landwirte müssen bald ihre Kühe wieder auf die Weide treiben.

In Starnberg werden Mütter aktiv. Aus "ohnmächtiger Wut aus dem Bauch heraus" sammeln sie Unterschriften, demonstrieren am Muttertag in München und fordern den sofortigen Ausstieg aus der Kernenergie.

Schon Mitte Mai beklagen die Bauern die "hohen finanziellen Verluste" durch die Reaktorkatastrophe.

Am 13. Mai misst ein Drößlinger Kernphysiker auf den Betonplatten im Hof der Wörthseer Grundschule eine Strahlenbelastung von 110 000 Becquerel pro Quadratmeter. In Wohngebieten sind maximal 3700 Becquerel erlaubt. Auf dem Rasen des benachbarten Sportgeländes sind es immer noch 60 000 Becquerel. Sein Kommentar: "Ich würde jetzt nicht mehr Fußball spielen."

Allenthalben wird die schlechte Informationspolitik von Behörden und Ministerien kritisiert. Die Bürger fühlen sich allein gelassen.

546 Mediziner aus dem Landkreis fordern den unverzüglichen Ausstieg aus der Atomenergie.

Am 22. Mai teilt das Landratsamt den Gemeinden mit, dass die Strahlenbelastung in Bayern wieder im Bereich des normalen Pegels liege, die Trinkwasserversorgung nach wie vor nicht gefährdet sei. Kopfsalat sei wieder zum Verzehr freigegeben, nicht aber anderer Salat und Spinat. Filter in Klimaanlagen sollten nur mit Staubmasken gewechselt werden, die Filter selber sollten in Plastiksäcken zwei Monte an Orten gelagert werden, wo sich Menschen nicht länger aufhalten.

Auch im Juni ist der Reaktorunfall und seine Folgen Thema in der SZ, freilich nicht mehr täglich. Das Landratsamt gibt bekannt, dass nun auch Spinat wieder "ohne Bedenken" gegessen werden kann. Die Unsicherheit bleibt und das Gefühl, bei Katastrophen dieser Größenordnung hilflos zu sein. Landrat Rudolf Widmann schreibt an Ministerpräsident Franz Josef Strauß und kritisiert, dass die Landratsämter zwei Monate nach dem GAU immer noch keine Anweisungen erhalten hätten, "welche Konsequenzen aus dem Unglück für künftige Störfälle gezogen werden".

Tschernobyl lässt die Menschen auch im Juli nicht los. Es gibt Sonderbürgerversammlungen zu den Folgen, die Milchbauern klagen über große Umsatzeinbußen. In den Gemeinderäten werden Anträge auf atomwaffenfreie Zonen diskutiert, wo es dann oft zu wütenden Auseinandersetzungen vor allem zwischen CSU und Grünen kommt. Die Grünen planen ein Volksbegehren zum Thema Kernkraftwerke in Bayern.

Im August 1986 beschäftigt dann ein anderes Thema Bürger und Gemeinden: "Landkreis Starnberg muss 140 Asylanten aufnehmen", titelte die SZ am 2. August. Die Renken weisen weiterhin hohe Becquerel-Werte auf. Die Kreisräte lehnen eigene Messstationen zur Überwachung der Radioaktivität ab. Immerhin antwortet jetzt Ministerpräsident Strauß auf Widmanns Kritik: Die Staatsregierung werde das Messstellennetz verdichten und die Kommunikation zwischen staatlichen und kommunalen Dienststellen verbessern, schreibt er.

Im September melden die Jäger einen Preisverfall beim Wild.

Am 12. Oktober ziehen die Grünen mit ihrer Spitzenkandidatin Ruth Paulig aus Herrsching zum ersten Mal in den Bayerischen Landtag ein. Es soll noch 25 Jahre dauern, und es braucht mit der Kernschmelze in Fukushima erst eine weitere Katastrophe, bis Deutschland schließlich den Ausstie g aus der Kernenergie beschließt.

© SZ vom 23.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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