Starnberg:Balanceakt für Flüchtlinge

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Das Zusammenleben auf engstem Raum verdeutlicht diese notdürftige Behausung, die neben etlichen anderen Hindernissen aufgebaut war. (Foto: Franz Xaver Fuchs)

Das Koordinierungszentrum für Bürgerschaftliches Engagement hat einen ungewöhnlichen Hindernisparcours aufgebaut, um zu verdeutlichen, wie sich Asylsuchende in der Fremde fühlen

Von Ute Pröttel, Starnberg

Gut zweitausend Flüchtlinge muss der Landkreis Starnberg in diesem Jahr unterbringen. Pro Woche kommen 46 Migranten neu an. Kommunalpolitiker und die öffentliche Hand stehen vor einer Herkulesaufgabe. Was sie leisten ist beachtlich, und ohne die beherzte Hilfe zahlloser Ehrenamtlicher wäre die Herausforderung nicht zu bewältigen. Die Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung ist riesig. Viele Helferkreise haben ihre Mitgliederzahlen in den vergangenen Wochen vervielfacht. Das Spendenaufkommen erreicht Höchststände. Das ist großartig. Doch wie schwierig die Arbeit vor Ort sich gestaltet, zeigt sich erst im direkten Kontakt. Es gilt unzählige Hindernisse zu überwinden. Sprachbarrieren, Sitten und Gebräuche, Traumata, nicht zuletzt falsche Erwartungen.

Um Integration erfolgreich bewerkstelligen zu können, ist es wichtig, sich in die Lage der Flüchtlinge hineinzuversetzen und auch den kulturellen und politischen Hintergrund der Schutzsuchenden zu kennen. Das Koordinierungszentrum für Bürgerschaftliches Engagement (KoBE) hat jetzt zwei Themenkomplexe beleuchtet: den Unterschied und die Gemeinsamkeiten von Islam und Christentum und Migration. Begleitet wurden die beiden Vorträge von einem ungewöhnlichen Hindernisparcours.

Rückwärts über eine Wippe gehen, den Blick noch auf die Heimat gerichtet, mit einem schweren Rucksack auf einem dünnen Schwebebalken balancieren oder durch eine Wanne mit kaltem Wasser auf eine Gruppe von Menschen zugehen. Die einzelnen Hindernisse stehen für den Balanceakt von Flüchtlingen und das "Paket", das sie zu tragen haben. Das kalte Wasser symbolisiert die kühle Distanz, die es zu überwinden gilt, um in der westlichen Gesellschaft anzukommen. So lassen sich Verunsicherung, Belastung oder Distanz erspüren. Die beiden schwersten Hindernisse im Parcours sind sicherlich der Sprachwärter und das Erklimmen der Bildungsstufen. Erdacht und umgesetzt haben diesen Parcours junge Migranten aus München. Das Erreichen eines Schulabschlusses fällt ihnen so schwer wie mit Krücken einbeinig eine Treppe hinauf zu steigen. Erst wenn alle Hindernisse überwunden sind, wird man in vielen Sprachen willkommen geheißen, auch auf bayerisch: "Schee, dass do seids!"

Von den bürokratischen Hindernissen sprach auch Willi Dräxler in seinem Vortrag "Migration - gestern, heute, morgen". Rein rechtlich, führte der Referent für Migration beim Caritasverband München und Freising aus, müssen Flüchtlinge innerhalb der ersten 48 Stunden nach Ankunft in Deutschland einen Asylantrag stellen. Der hat einer bestimmten Form zu folgen. Aufgrund der hohen Zahl an Schutzsuchenden und schlechten personellen Ausstattung auf Seiten der deutschen Verwaltung ist dies seit September 2015 nicht mehr zu bewältigen. Die Flüchtlinge erhalten erst einmal eine Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender, die sogenannte Büma. Gespickt war Dräxlers Vortrag immer wieder von persönlichen Anekdoten. Er erinnerte aber auch daran, dass Deutschland selbst einst ein Auswanderungsland war. Die Menschen die Deutschland verließen waren klassische Wirtschaftsflüchtlinge. In den vergangenen Jahren haben immerhin noch rund eine Dreiviertel Millionen Menschen jährlich Deutschland verlassen. Um den Wohlstand auch künftig zu sichern sind bis 2040 gut 400 000 Einwanderer pro Jahr notwendig. Bis August 2015 wurden rund 257 000 Asylanträge in Deutschland gestellt.

Uneins waren sich die Referenten über den prozentualen Anteil der Muslime an der deutschen Bevölkerung. Dräxler sprach von fünf Prozent, die sich auch nach der jüngsten Einwanderungswelle höchstens um 1,5 Prozent erhöhen würde, Karst Pfeifer bezifferte die Zahl auf 20 Prozent.

© SZ vom 24.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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