Es dauert nicht lange, von München aus in den Urlaub nach Venedig zu reisen - mit Auto oder Bahn ist die Strecke in gut sechseinhalb Stunden zurückzulegen. "Es ist eine Reise, auf der sich die Schönheit der Natur erleben lässt und welche Menschen verbindet", sagt Ludwig Graßler über die Verbindung der beiden Städte. "Besonders aber findet man dabei zu sich selbst." Allerdings schwärmt er nicht von der Fahrt über den Brenner, sondern von der 28 Tage langen Wanderung über die Alpen - unterwegs auf dem "Traumpfad München-Venedig" - deren Strecke er erschlossen hat.
Eine Überquerung der Alpen, "abseits von Straßen und städtischem Lärm", dabei nur von den eigenen Füßen getragen werden - davon habe er lange geträumt, erzählt Graßler. Die Route hat der in Waldram lebende 93-Jährige in langer Planung einst selbst ausgetüftelt. Damit hat er sich den Wunsch einer Alpenüberschreitung erstmals erfüllt. Deshalb heißt die Strecke "Traumpfad München-Venedig". 1974 erwanderte Graßler zum ersten Mal in 28 Tagesetappen die rund 550 Kilometer, bewältigte dabei mehr als 20 000 Höhenmeter. Bis heute halten sich Bergsteiger an seine Beschreibung, die er 1977 in seinem ersten Wegführer "Zu Fuß über die Alpen" veröffentlicht hat. In dessen Geleit schwärmt Graßler von einem "echten Traumpfad, wie er schöner nicht sein kann".
Seither treten ganze Scharen wortwörtlich in Graßlers Fußstapfen: Vom Münchner Marienplatz geht es über Wolfratshausen nach Bad Tölz, der Einstieg ins Gebirge erfolgt am Brauneck, der Abgang in Belluno, es folgen fünf Tage durch die oberitalienische Ebene. Die Route ist trotz ihrer hohen Anforderungen längst international bekannt, sie gilt als einer der populärsten Fernwanderwege Europas.
Berge, insbesondere die Alpen, haben ihn schon "angemacht", seit er "ein 13-jähriger Bua war", erinnert sich Graßler, der als eines von zehn Geschwistern im flachen Amberg in der Oberpfalz aufwuchs. Damals, im Jahr 1938, habe die Erzählung eines Salesianerpaters über die Benediktenwand erstmals seine Gebirgs-Neugier geweckt. Daraufhin sei er in den Sommerferien mit zwei Freunden von Amberg aus Richtung Süden geradelt, um besagten Berg zu besteigen. In den nächsten zwei Jahren folgten weitere Radfahrten, erzählt Graßler, unter anderem nach Innsbruck und bis an die italienische Grenze. Mit einer Tour auf die Serles, auch "Hochaltar von Tirol" genannt, machte er dort als 15-Jähriger selbst erfahrenen Hochalpinisten Konkurrenz.
Was danach kam, beschreibt Graßler heute als die bewegtesten Jahre seines Lebens: Er erfuhr von einer Gebirgs-Unteroffiziershochschule, meldete sich dort und wurde 1941 angenommen. Während der Zweite Weltkrieg in Europa tobte, folgten eine Hochgebirgsausbildung bei den Gebirgsjägern und drei Jahre in französischer Kriegsgefangenschaft.
Danach habe er sich neu orientieren wollen, deshalb "Gartenbau von der Pieke auf gelernt". Nach absolvierter Lehre, Zeit im Ausland, einem Studium in Weihenstephan und einer Anstellung in Krumbach sei er schließlich 1962 "Kreisfachberater für Gartenbau und Landespflege" am Landratsamt in Wolfratshausen geworden.
Dieser Umstand sowie sein ehrenamtliches Engagement im Ausschuss der Naturschutzgemeinschaft "Isartalverein" (ITV) seien "Schicksalswendungen gewesen, aus denen München-Venedig letztlich hervorging", ist Graßler überzeugt. Damals habe ihn dessen Vorstand gebeten, ein Isar-steilufer zwischen Wolfratshausen und Bad Tölz für Fußwegverbindungen neu zu erschließen. Die Wege zwischen den Partnerstädten waren durch den Krieg unterbrochen worden. "Alle Wanderwege endeten damals in Wolfratshausen", berichtet Graßler. Auf zahlreichen Erkundungstouren habe er daraufhin das Gelände ausgekundschaftet, Wege geplant und zusammen mit Freiwilligen an der Strecke gearbeitet, bis ein Pfad nach Bad Tölz - und schließlich sogar bis Lenggries - stand.
Doch er habe "immer noch ein bisserl weiter" gewollt, sagt er und lächelt verschmitzt. Als er eine Wandergruppe anlässlich des 70. ITV-Jubiläums von Großhesselohe zur Isarquelle im Karwendelgebirge führte, sei ihm schließlich der Einfall gekommen, den Weg zu einer Alpenüberquerung auszuweiten: "Ich kannte ja als ehemaliger Gebirgsjäger das Karwendel und die Route ins Zillertal. Andere berichteten mir von ihren Erfahrungen auf Dolomitenhöhenwegen. So haben wir die Idee einer Alpenüberquerung gemeinsam gesponnen."
Eine erste Begehung scheiterte 1973 trotz intensiver Planung, der Versuch im folgenden Jahr hingegen "verlief dann ideal". Graßlers Augen leuchten, wenn er erzählt, wie er gemeinsam mit zwei Begleitern damals am Marienplatz von einem Chor mit "frohen Wanderliedern" verabschiedet worden war. Die folgenden 28 Tage bis Venedig seien sie in einem durchgereist, natürlich ausnahmslos zu Fuß. "Und weil's so schön war", sagt Graßler, "bin ich im nächsten Jahr gleich nochmal gestartet - und habe meinen 50. Geburtstag am Markusplatz gefeiert." Ganz gegangen sei er die Strecke übrigens fünfmal.
Wer nach Graßlers Vorbild läuft, merkt schnell, was es bedeutet, auf einem "Traumpfad" unterwegs zu sein. Die Tour führt Bergsteiger fernab jeglichen städtischen Trubels, durch fußläufig erreichbare Landschaften und auf Hütten, die hoch über dem Alltag thronen. Im Karwendel überwinden Wanderer schroffe Gipfel, sie erleben hochalpine Welten in den Zillertaler Alpen, Südtirols grüne Almweiden und nebelverhangene Steilwände in den Dolomiten. Seine Erlebnisse hat Graßler ausgiebig dokumentiert - auf Fotos, Karten sowie in Büchern - und dieses Material der Stadt Wolfratshausen vermacht, in der Hoffnung, sie möge ihm "einen Raum für eine Dauerausstellung für die stetig wachsende München-Venedig-Gemeinschaft gewähren". Dieser Wunsch ist bislang unerfüllt geblieben.
Statt in Wolfratshausen trifft sich Graßler deshalb stets im November mit seinen "Traumpfadlern" zu einem Stammtisch im Münchner Hofbräuhaus. Und wenn dort die Stimmung ihren Höhepunkt erreicht, singen sie ihrem Erstbegeher zu Ehren ein ganz besonderes Ständchen: "Ein Mann nahm einst den Wanderstab, um uns den Pfad zu schildern: Quer durch Tirol, bergauf, bergab, in leuchtend bunten Bildern. Wir wandern heut' auf seiner Spur von München bis Venedig - und wünschen uns das eine nur: Sankt Petrus sei uns gnädig!"