Mitten in Dießen:Schwerhörig und steinalt

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In der Post finden  sich mitunter Briefe und Postkarten, die nicht eben dazu beitragen, die Stimmung zu heben

Glosse von Armin Greune

Ein bisschen seltsam ist es schon, dass gerade im Lockdown immer mehr Einladungen im Briefkasten landen. Ein richtig mulmiges Gefühl aber stellt sich ein, wenn dabei eine klare Tendenz zu erkennen ist, die einem die eigene Vergänglichkeit vor Augen führt. Zumal der Zahn der Zeit ja ohnehin viel lauter nagt, seitdem die Pandemie das gesellschaftliche Leben weitgehend stillgelegt hat. Womöglich altert der Mensch bei Langeweile besonders rasch. Womöglich hat er auch nur mehr Zeit zur Selbstbespiegelung und entdeckt so ständig neue Wehwehchen und Anzeichen von Verschleiß oder fortschreitender Senilität an sich.

In keinem Fall aber trägt es zur Hebung der Stimmung bei, wenn sich in der täglichen Papierpost ein Werbebrief eines Dießener Akustikers findet, der einen kostenlosen Hörtest anbietet. Dabei funktionieren die Ohren immer noch tadellos! Besonders hellhörig werden sie im Moment bei der scheinheiligen Frage "Vielleicht haben auch Sie festgestellt, wie wichtig Ihnen Ihre Gesundheit ist?", mit der das Schreiben beginnt.

In der niederschmetternden Wirkung wird der Brief freilich von einer knallgelben Postkarte übertroffen, die kürzlich im persönlich adressierten Umschlag in der Redaktion eingegangen ist. "Vorfreude ist die schönste Freude." So lautet die frohe Botschaft, die in großen roten Lettern den Großteil der Vorderseite einnimmt. Klein in der Ecke links steht noch schwarz:"#WirfreuenunsaufSie #Bisbaldim..." Es folgt der Name einer Seniorenresidenz, die man - ungeachtet ihres untadeligen Rufs in Dießen - doch nicht so gern bald zum Wohnsitz hätte. Auf der weißen Rückseite steht unten dezent die Webadresse der Einrichtung und oben rechts "Bitte freimachen" im Markenfeld. Leere Zeilen darunter legen nahe, dass man noch eine andere Person mit dem Kartengruß beglückt, die schon immer derart diskret auf ihr fortgeschrittenes Alter hingewiesen werden wollte.

Bei so viel freudiger Erwartung im Seniorenheim kann es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis man auch von den örtlichen Bestattungsunternehmen zur Klientel gerechnet wird. Ob die dann eine Einladung zum Probeliegen schicken?

© SZ vom 19.01.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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