Vielen Leuten ist schon ein Job zu viel, Marie-Josefin Melchior hat drei. Sie ist diplomierte Tonmeisterin, dirigiert seit September 2015 das Germeringer Kammerorchester und tritt außerdem mit ihrem Freund Johann Zeller im Duo auf. Das vielleicht Überraschendste daran ist: Wer Melchior trifft, hat nicht den Eindruck, einem nie zur Ruhe kommenden Energiebündel zu begegnen. Die 36-Jährige, die auf der kleinen Terrasse der "Schokosphäre" sitzt, der einstigen Bäckerei ihrer Eltern in Breitbrunn, wirkt locker und entspannt. Und vermittelt den Eindruck, dass sie Zeit im Überfluss hat.
Die Geigerin und der Akkordeonist Zeller haben ihr Duo "KlangZeit" genannt, heuer absolvieren sie an die 40 Auftritte mit Couplets, Tango Nuevo von Piazzolla, Csárdás und eigenen Sachen. Gut, die Stücke stammen nicht von ihr, sondern von Zeller. Aber nebenbei noch Weltmusik zu komponieren, wäre sogar von dieser zupackenden Frau zu viel verlangt. Immerhin gehört die 36-Jährige zu den international gefragten Könnern in ihrem Hauptberuf.
Die gebürtige Breitbrunnerin hat schon mit Orchestern und Solisten wie den Münchner Philharmonikern und dem Qatar Philharmonic Orchestra gearbeitet, mit den Bamberger Symphonikern, dem Münchner Rundfunkorchester, den Wiener Sängerknaben, dem Julia Fischer Quartett, Isabelle Faust und Alexander Melnikov. Im Endeffekt kann man sich ihre Rolle wie die eines Dirigenten oder Produzenten vorstellen, nur dass die vorwiegend für BR und SWR frei arbeitende Tonmeisterin nicht gestaltet, "sondern nur kommentiert". Bei klassischen Orchesteraufnahmen entwickelt sie zunächst mit Toningenieur und Tontechniker ein Mikrofon-Konzept und hilft beim Aufbau. Wo also wird das Hauptmikro platziert, wie viele weiteren Mikros sind für die Instrumentengruppen oder einen Solisten nötig? Sobald die Musik einsetzt, sind ihr Gehör und ihre Fähigkeiten als Partiturleserin gefragt. "Höre ich die Harfe, wenn sie ihren Einsatz hat? Sind die Klarinetten nicht etwas leise?"
Bei CD-Produktionen ist sie Psychologin, Technikerin und "Ersthörerin" zugleich, wie sie es nennt. "Ich muss sehr auf die Situation und die Musiker eingehen", sagt sie, die meisten erwarteten von ihr sehr wohl kritische Rückmeldungen, was Tempi und Schlüssigkeit der Interpretation betrifft. Einige seien so nervös, dass sie eine Stelle noch zwölf Mal einspielen wollten, was meistens wenig Sinn hat. Andere wiederum, gelegentlich auch Stars, lehnten es ab, sich reinreden zu lassen. Im Idealfall aber gelingt es Melchior zusammen mit dem jeweiligen Solisten oder Orchester, "die Musik durch diese Detailarbeit nicht langweiliger zu machen, sondern noch überzeugender".
Im Studio geht es natürlich nicht darum, ein einmaliges Erlebnis festzuhalten. Eine CD ist eine Aneinanderreihung glänzender Passagen, ein grandioses Flickwerk also, und Melchior so etwas wie eine Sammlerin der großen Momente. Denn die Sache ist die: Viele Musiker begnügen sich nicht mit zwei, drei Durchgängen des kompletten Stücks. Im Normalfall kann Melchior aus immerhin zehn bis zwölf verschiedenen Aufnahmen von ein und demselben Werk auswählen. Perfektionisten spielen drei Takte sogar bis zu zwölf Mal ein. Und am Ende gibt es auf einem 60- oder 70-minütigen Album dann "selten unter 500 Schnitte", sagt die Tonmeisterin, also etwa zehn pro Minute.
Um eine CD zu produzieren, haben die Mitwirkenden meist drei bis vier Tage Zeit. Weil Melchior immer an einen Ausspruch ihres Professors Jürg Jecklin an der Uni Wien denken muss ("Musiker ziehen sich fast aus vor dem Team"), versucht sie, die Sänger oder Instrumentalisten zu beruhigen, sachlich zu beraten und vor lästigen Video-Teams zu schützen. Gelegentlich gibt es ideale Bedingungen, 2013 etwa, als sie sechs Tage Zeit hatte für CD-Aufnahmen mit dem Qatar Philharmonic Orchestra und "musikalisch wahnsinnig viel arbeiten und in aller Ruhe ausfeilen konnte". Manchmal stimmt einfach die Chemie, 2016 beispielsweise mit dem Mariani Klavierquartett. Und ab und zu, 2009 bei Aufnahmen eines Klaviertrios, kommt schon bei der ersten Klangeinstellung Streit auf.
Für die anschließende Bearbeitung der zehn oder zwölf Durchgänge am Computer braucht Melchior meist doppelt so lange wie für die Aufnahmen. Sie kann mit ihrem Schnitteditor am Laptop sogar Sechzehntel und Zweiunddreißigstel durch bessere Takes ersetzen. Nach dem ersten Schnitt kommen meist zwei, drei Anmerkungen von den Musikern. Aber es gibt auch Solisten, die auf CD so perfekt klingen wollen, wie sie gar nicht spielen. Ein Geiger jedenfalls schickte Melchior sechs Din-A4-Seiten mit Änderungswünschen. Das dritte Sechzehntel in einem Lauf rutsche eine Spur nach unten weg, stand da zu lesen. Oder auch: Das hohe es müsse eine "Spur tiefer" sein, und die Intonation passe auch an dieser und jener Stelle nicht so ganz. Die Korrekturanfragen brachten Melchior vor allem deshalb "auf die Palme", weil sie gerade die Stellen ausgesucht hatte, die besonders schwungvoll klangen. "Wenn man alles einarbeitet, wirkt das nicht mehr lebendig, sondern tot", sagt die Toningenieurin, die sich mit dem Geiger schließlich auf einen Kompromiss verständigen konnte.
Melchior ist nicht so sehr mit Klassik, sondern vor allem mit Volksmusik aufgewachsen. Die Eltern (Hackbrett und Zither), die vormals die Bäckerei Meindl betrieben, und die Tante (Harfe) spielten in der Breitbrunner Stubnmusi. Als sie Rudi Pietsch begegnete, Primas der "Tanzgeiger" und Wiener Uniprofessor, faszinierte sie sein freies Spiel so sehr, "dass ich unbedingt nach Wien wollte zum Studieren". Sie entschied sich für ein Tonmeister-Studium mit dem Instrumentalfach Violine, weil sei immer auch ein Faible für Mathe und Technik hatte. Sie lernte, wie Mischpulte und Mikros aufgebaut sind, vor allem ging es in Wien aber um Gehörbildung und Fragen der Akustik. "Ein sehr künstlerisches Studium", wie sie findet. Am Ende musste sie sich in einem von Männern dominierten Beruf durchsetzen. "In meinen Jahrgang in Wien waren zwölf Absolventen: zehn Männer und zwei Frauen".
Für ihre Nebenprojekte hat sie einleuchtende Begründungen. Irgendwann genügte es ihr nämlich nicht mehr, die von anderen gespielte Musik nur kommentieren oder korrigieren zu können. "Das war mir zu wenig, deshalb bin ich Dirigentin geworden". Und "KlangZeit"? Ganz einfach, "das macht wahnsinnig Spaß", sagt Marie-Josefin Melchior und lacht.