Kein Einzelfall:Alt und süchtig

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Die Zahl der Menschen, die im Rentenalter abhängig von Medikamenten oder Alkohol sind, steigt stetig an. Condrobs betreut Betroffene und deren Angehörige seit zwei Jahren in einer eigenen Gruppe in Starnberg

Von Astrid Becker, Starnberg

Ein kleines Glas Wein zum Essen ist erlaubt. Mehr Alkohol gestattet sich die 78-jährige Anna G. (Name der Red. bekannt) nicht. Noch vor vier Jahren war das anders. Die Frau litt unter Schlafstörungen, Ängsten und fühlte sich nach dem Tod ihres Mannes einsam. Sie, die früher viel Sport getrieben und Wert auf eine gesunde Ernährung gelegt hatte, begann zu trinken. Erst nur ein Haferl heißes Wasser mit einem Löffel Melissengeist vor dem Schlafengehen, später ein Haferl Melissengeist mit einem Löffel heißen Wassers. Dazu kamen die Gläser Wein, ohne die sie sich ihr Mittag- und Abendessen kaum mehr vorstellen konnte.

Die Geschichte von Anna G. ist kein Einzelfall. Vielmehr steige die Zahl derer, die im Rentenalter an Suchterkrankungen leiden, auch im Landkreis Starnberg, wie Stefan Wenger, Abteilungsleiter bei Condrobs, sagt. Da gebe es die Abhängigen, die aufgrund der besseren medizinischen Versorgung heutzutage älter werden als früher; da gebe es diejenigen, die erst bedingt durch Angst vor dem Tod oder anderer seelischer Belastungen erst im Alter begännen, zu Suchtmitteln zu greifen; und auch die, die schon immer suchtgefährdet gewesen seien, aber sich bislang durch Beruf oder Familie noch einer sozialen Kontrolle ausgesetzt gesehen hätten, die mit dem Eintritt ins Rentenalter wegfalle. So beschreibt Wenger, die verschiedenen Hintergründe der Menschen, die seit 2015 in einer speziellen Gruppe für Ältere bei Condrobs Hilfe finden.

Dass ein derartiges Angebot wirklich nötig ist, belegt allein schon die demografische Entwicklung. So ist etwa ein Viertel der Bevölkerung mehr als 60 Jahre alt, das Statistische Bundesamt rechnet bis zum Jahr 2050 mit einem Anstieg auf 36 Prozent. Mehr als 15 Prozent davon pflegen, den Angaben der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen zufolge, einen recht riskanten Alkoholkonsum, regelrecht von Alkohol abhängig sind der Statistik zufolge zwei bis drei Prozent Männer, ein halbes bis ein Prozent Frauen. In Sachen Medikamentenmissbrauch fällt die Statistik noch deutlich negativer aus: Ihr zufolge nehmen knapp 25 Prozent dauerhaft Psychopharmaka ein, die Hälfte davon entfällt auf Benzodiazepine. Vergleichsweise wenige Betroffene scheinen sich die Hilfe zu suchen, die sie benötigen. Vor fünf Jahren waren beispielsweise 17,8 Prozent der von den Fachberatungsstellen für Suchtkranke und ihre Angehörigen in Oberbayern betreuten Menschen zwischen 60 und 64 Jahren alt, nur 2,8 Prozent hingegen waren älter als 65.

In Starnberg liegt die Quote weitaus höher, hier waren in den vergangenen Jahren sechs bis acht Prozent der Betreuten im Rentenalter. Das mag daran liegen, dass im Landkreis ohnehin sehr viele Menschen leben, die mehr als 65 Jahre alt sind. Aber Wenger sieht auch die Hemmschwelle als gesunken an, sich Hilfe bei Suchtproblemen zu suchen. Insgesamt hat Condrobs im Landkreis derzeit knapp 700 Klienten, etwa 500 davon sind die Betroffenen selbst, etwa 200 ihre Angehörigen.

Bei der Beratungsstelle in der Starnberger Hauptstraße werden beide Seite individuell betreut. Das heißt: Zunächst wird immer die Lebenssituation, das Umfeld und der Grad der Abhängigkeit analysiert. Dabei geht es um Fragen, wie stark zum Beispiel der Wunsch nach der jeweiligen Suchtsubstanz ist, wie sehr der Betroffene noch in der Lage ist, seinen Konsum zu kontrollieren, ob er die Substanz zu sich nimmt, um körperliche und psychische Entzugserscheinungen zu mindern, ob er seine tägliche Dosis immer weiter steigern muss, um die gewünschte Wirkung zu erzielen, ob er andere Interessen hat oder diese zugunsten des Konsums vernachlässigt.

Im Falle von Medikamentenmissbrauch werden die Betroffenen Wenger zufolge erst einmal zum Arzt geschickt, um herauszufinden, ob das jeweilige Medikament abgesetzt werden kann. Ihm zufolge wird offenbar zu viel verordnet: Etwa die Hälfte aller Rezepte sind für Menschen über 60 Jahren bestimmt: "Da stellt sich dann schon die Frage, was sinnvoll und angemessen ist", sagt er. Schließlich bestehe eine große gesundheitliche Gefahr durch die vielen im Körper angehäuften Wirkstoffe - vor allem bei älteren Menschen, deren Stoffwechsel verlangsamt sei: "Die Dosierung sollte dem Alter angepasst werden", fordert er, "viel hilft nicht viel." Benzoediazepine, die angstlösend, schlaffördernd und muskelentspannend wirken, seien zudem sehr schnell suchterzeugend, ihre Nebenwirkungen höchst gefährlich: Die Gefahr zu stürzen steige, die Reaktionsfähigkeit werde dagegen stark verlangsamt.

Alternativen fürs Leben zeigt Condrobs in der Gruppe für Ältere auf. Da geht es um die Pflege längst vergessener Interessen und um neue soziale Kontakte. Geleitet wird die Gruppe übrigens von einer Dame im Rentenalter. Wenger: "Das erhöht die Glaubwürdigkeit bei den Betroffenen."

© SZ vom 16.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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