Das Ding kippt halt nach jeder Seite weg. Nach links, nach rechts, nach vorne und hinten. Allein, droben zu bleiben, ist eine Kunst. Für Anfänger ist es schon mühsam, Halt zu finden oder auch nur einen Meter mit einem Einrad zurückzulegen. Aber die Schwestern Melanie und Katalin Reich tanzen damit Ballett, hüpfen damit und fahren Rennen. Und kichern noch dabei.
Mittwochvormittag in der Turnhalle der James-Krüss-Grundschule in Gilching: Die Melodie des Neue-Deutsche-Welle-Hits "Major Tom" kommt aus einem Mini-Lautsprecher, der an einem Handy hängt, sonst ist nur das leise Quietschen der hellgrauen Fahrradreifen auf dem Hallenboden zu hören, ab und zu eine kurze Anweisung. Plötzlich kracht es, die Sättel sind heruntergekippt, aber Melanie und Katalin radeln im Stehen weiter, schnappen sich wieder die Sattelstange, drehen konzentriert zur Musik ihre Kreise. Nun liegt die 15-jährige Katalin mit dem Bauch auf dem Fahrradsattel und lässt sich von ihrer drei Jahre älteren Schwestern wie einen Schubkarren schieben. "Völlig losgelöst von der Erde", lautet eine Refrainzeile in Major Tom. Es sieht nur spielerisch aus, was die beiden da machen. Sie gehören zu den besten in ihrem Verein, Katalin in manchen Disziplinen sogar zu den erfolgreichsten in Deutschland.
Das hätten sich die Großeltern der Reich-Schwestern wohl nicht träumen lassen, was sie da vor neun Jahren für ein Osterei gelegt haben. Zwei Einräder haben sie als Geschenke mitgebracht, und ihre Enkellinnen haben gleich angefangen zu üben. "Die haben am Anfang gedacht, das wird nie was", erinnert sich Katalin an die mühsamen Anfänge. Zwischen Mutter und Oma ist sie auf ihrem Rad entlangbalanciert. Immer wieder hat sie es probiert, ist unfreiwillig abgestiegen immer aufgestiegen. Im Jahr darauf hat der TSV Gilching eine eigene Einrad-Abteilung gegründet, Melanie und Katalin Reich waren von Anfang an mit am Start. Mittlerweile fährt die zierliche 15-Jährige den meisten davon. Die Strecke von Gilching zu ihren Großeltern in Herrsching schafft sie in einer Stunde; und das sind fast 20 Kilometer. Im Rennen hat sie schon einen Weltmeistertitel geholt, was nur noch nicht offiziell bestätigt ist. Mit einer Freestyle-Kür, in der sie als Dirigent auftritt, ist sie im April mit ihrer Kür "Dirigentin" Deutsche Meisterin geworden.
Gilching ist einer der Einrad-Hotspots in Deutschland. Mehr als hundert Mitglieder des TSV haben sich diesem wackligen Sport verschrieben. Außer den Reich-Schwestern sind zum Beispiel auch Teamkollegin Clara Scheufler, der Freestyle-Künstler Markus Leuchtle oder die Rennfahrerin Bella Auerbach sehr erfolgreich. Insgesamt sind es vor allem Mädchen, die diese Kunst beherrschen. Es gibt Tage, da ist das sogar im Ort unübersehbar, weil überall auf den Gehwegen mit den Armen rudernde Mädchen auf ihren Einrädern unterwegs sind, als wäre das das übliche Fortbewegungsmittel. Auch in Burghausen erlebt die Sportart einen Boom, in Frankfurt und im Ruhrgebiet. Wenn sich die besten der Szene zu Wettkämpfen treffen, sind Melanie und Katalin meistens mit dabei.
Die beiden Gilchingerinnen, die das Christoph-Probst-Gymnasium besuchen, haben schon viele Titel geholt, auf bayerischer Ebene, national und über die Landesgrenzen hinaus. Und schon bald geht es zu den nächsten Wettbewerben. Am ersten Juli-Wochenende zum Beispiel sind im unterfränkischen Hofheim die Bayerischen Meisterschaften im Rennen. Und Anfang August geht es nach Mondovi in Norditalien zu den Europameisterschaften. Was sie dort erwartet? Ob sie auf einen weiteren Rekord hofft? "Dass wir schön Spaß haben dort", sagt Katalin, "und nicht so viel Regen". Schließlich finden die Renn-Wettbewerbe im Freien statt, und danach gibt es noch einen Familienurlaub.