Inklusion:Viel zu langsam in Sachen Barrierefreiheit

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Der Arge-Vorsitzende Claus Angerbauer resümiert: "Die Hausaufgaben sind nicht weniger geworden." (Foto: Nila Thiel)

Bei dem Thema geht kaum etwas voran, vor allem weil die Fachkräfte fehlen. Dabei hätten Landtags- und Bezirkstagskandidaten gute Ideen.

Von Sylvia Böhm-Haimerl, Gilching

Ob Schule oder Berufsleben, Wohnen, Sport oder Freizeit: Der Weg zur Barrierefreiheit ist mühsam. Zwar ist zumeist der gute Wille da, aber häufig es fehlt an Fachkräften oder die Strukturen sind veraltet. Dies war das Fazit der Diskussion zum Thema "Barrierefrei in Bayern und im Landkreis" in Gilching, zu der die Arbeitsgemeinschaft für Behindertenfragen (Arge) am vergangenen Mittwoch elf Landtags- und Bezirkstagskandidaten eingeladen hatte.

Vor zehn Jahren hat die Staatsregierung das Projekt "Bayern barrierefrei bis 2023" gestartet. Doch davon ist man noch weit entfernt. Auch die Inklusion, die allen Menschen mit und ohne Behinderung die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen soll, scheitert oft an Kleinigkeiten.

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In der sehr regen Diskussion wurde gefragt, wie viele von den insgesamt 46 Schulen im Landkreis tatsächlich barrierefrei sind oder warum es neben der Starnberger Fünf-Seen-Schule mit Tutzing und Wörthsee nur noch zwei inklusive Schulen gibt. Es wurde der Bau einer inklusiven Schule für alle vorgeschlagen.

Die CSU-Landtagsabgeordnete Ute Eiling-Hütig würde diesen Wunsch unterstützen, allerdings müsste die Finanzierung gesichert sein. Ihrer Erfahrung nach scheitern viele Projekte auch am Mangel von Fachkräften. Nach ihren Angaben sollen 8000 neue Stellen in Bayern geschaffen werden, davon zwei Drittel für Lehrer, der Rest für Schulpsychologen und Sozialarbeiter. Doch diese Fachkräfte gebe es schlichtweg nicht.

Man ist sich einig: Die Fachkräfte fehlen

"Wirkliche Inklusion ist, dass man keine Helfer mehr braucht", sagte sie. Laut Grünen-Bezirksrätin Martina Neubauer liegt es nicht am fehlenden Geld, immerhin standen 2,4 Milliarden Euro im Jahr 2022 zur Verfügung. "Der Etat hilft nichts, wenn man das Personal nicht hat", erklärte sie. Wie Petra Gum, FW-Bezirkstagskandidatin und Förderlehrerin an einer Grundschule, ausführte, wird erst ab fünf Kindern mit Förderbedarf pro Klasse eine zweite Lehrkraft genehmigt. "Ich mahne an Politik und Gesellschaft: In der frühkindlichen Bildung entscheidet sich, was aus dem Kind wird", betonte sie.

Eine Besucherin monierte, dass es für Lehrer an Gehörlosenschulen nicht vorgeschrieben sei, die Gebärdensprache zu beherrschen. Eine andere Zuhörerin wies darauf hin, dass es zwar Blindengeld, aber kein Gehörlosengeld gebe.

Arbeiten mit Behinderung? Das geht meist nur in Werkstätten

Die Arbeitssituation für Menschen mit Behinderung ist ebenfalls schwierig. Viele betroffene Menschen finden laut SPD-Landtagskandidatin Christiane Feichtmeier nur Arbeit in einer Behindertenwerkstätte. Sie bekämen nicht einmal den Mindestlohn, sie arbeiteten für einen "Hungerlohn". Nach den Erfahrungen des Unternehmers und FW-Landtagskandidaten Matthias Vilsmayer ist die Wirtschaft durchaus offen, habe aber "Hemmschwellen". Es fehle an der entsprechenden Beratung für Arbeitgeber. Ebenso wie Feichtmeier und FDP-Landtagskandidatin Britta Hundesrügge schlug er vor, dass die Wirtschaftsfördergesellschaft GWT einen Preis auslobt für besonders inklusive Betriebe oder entsprechende Aktionen zum Tag der Ausbildung startet.

Doch was nutzt der beste Arbeitsplatz, wenn man laut der Grünen-Landtagskandidatin Andrea Schulte-Krauss keinen barrierefreien ÖPNV hinbekommt? Fehlende Mobilität könnte mit dem Ausbau der Digitalisierung und einem Homeoffice-Angebot kompensiert werden. Aber das ist nach der Erfahrung des Arge-Vorstandsmitglieds und ÖDP-Bezirkstagskandidaten Willi Neuner nicht in allen Berufen möglich, beispielsweise im Verkauf oder Vertrieb. Voraussetzung sei zudem ein stabiles Internet und barrierefreie Konferenz-Programme. Bei der Digitalisierung nehme man die Menschen, die Schwierigkeiten hätten sich anzupassen, nicht mit, so der Computer-Fachmann.

Nicht sichtbare Handicaps, wie Gehörlosigkeit, müssen auch berücksichtigt werden

Barrierefreie Gebäude sind ebenfalls nicht selbstverständlich. Es gibt viele barrierefreie Neubauten, wie das Rathaus in Gilching, das 2017 sogar dafür ausgezeichnet wurde. Doch wie der FDP-Bezirkstagskandidat Cederic Muth berichtete, verfügt das Rathaus in seinem Wohnort Berg zwar über eine Rollstuhlrampe. Das Kopfsteinpflaster auf der Rampe sei allerdings für Rollstuhlfahr eine Hürde. Am Ausbau des Altbestands hapert es vielerorts, wie etwa bei den Bahnhöfen oder beim Kurparkschlösschen in Herrsching. Manchmal werde der Bahnhof nur einseitig barrierefrei ausgebaut, wie CSU-Bezirksrat Harald Schwab am Beispiel Neu-Gilching erläuterte.

Eine Mutter mahnte an, nicht nur Rollstuhlfahrer bei den Planungen zum barrierefreien Ausbau zu berücksichtigen, sondern auch die Menschen mit nicht sichtbaren Handicaps, wie etwa Gehörlose. "Da gibt es noch viel zu tun. Die Hausaufgaben sind nicht weniger geworden", resümierte der Arge-Vorsitzende Claus Angerbauer. Und Moderatorin Sissi Fuchsenberger, SPD-Kreisrätin, Inklusionsbeirätin und Arge-Vorstandsmitglied, forderte die Inklusion bei Verordnungen und Vorschriften ähnlich zu behandeln, wie den Brandschutz.

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