Geschichte:Die zwei Gesichter eines Arztes

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Uwe Timm (rechts) liest und erzählt, sein Freund und Lektor Martin Hielscher moderiert. (Foto: Nila Thiel)

Der Schriftsteller Uwe Timm liest in Herrsching aus seinem Roman "Ikarien", in dem es um den Eugeniker Alfred Ploetz geht. Er widerspricht dem Enkel des Mediziners, der sagt, sein Großvater sei kein Nazi gewesen

Von Christine Setzwein, Herrsching

Muss man einem Menschen, der in Deutschland die Eugenik begründet und den Begriff Rassenhygiene geprägt hat, der 1933 eine Ergebenheitsadresse an Adolf Hitler geschrieben hat und der Mitglied der NSDAP war, mit einem Straßennamen ehren? Diese Frage richtete Helmut Ronstedt am Sonntag an Uwe Timm. Der Schriftsteller war nach Herrsching gekommen, um aus seinem neuen Buch "Ikarien" zu lesen, in dem es um den Arzt und Eugeniker Alfred Ploetz geht, der nicht nur - so wie Timm - in Herrsching gelebt hat, sondern auch der Großvater von Timms Ehefrau Dagmar Ploetz ist und nach dem in Herrsching die Ploetzstraße benannt ist.

Die Zuhörer hätten sich wohl ein eindeutiges "Nein" als Antwort gewünscht. Doch so leicht machte es ihnen der 78-jährige Autor nicht. Er erzählte, dass er einmal gefragt wurde, ob der "Reiter von Südwest", ein Standbild in Windhuk, nicht entfernt werden müsse, erinnere es doch an die blutige Kolonialgeschichte der Deutschen - Timms Roman "Morenga" erzählt die Geschichte vom Aufstand der Herero in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia. Er, sagte Timm, habe sich dafür ausgesprochen, das Standbild, das die deutsche Schutztruppe verherrlicht, stehen zu lassen und daneben den vielen Vertriebenen und ermordeten Hereros ein Denkmal zu setzen. Der Reiter wurde abgebaut und "vergammelt jetzt irgendwo in einem Museums-Hinterhof", sagte Timm. "Jede Gemeinde muss sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen", meinte er. Herrschings Bürgermeister Christian Schiller hat es gehört.

Etwa 200 Zuhörer waren zu der Matinee ins Haus der Bayerischen Landwirtschaft gekommen. Ziemlich viel für einen schönen Sonntagvormittag. Darüber freuten sich die drei Veranstalter, der Kulturverein, die Lokale Agenda und die Indienhilfe Herrsching, die, wie Gemeindearchivarin Friedrike Hellerer sagte, unabhängig voneinander die Idee hatten, den bedeutenden deutschen Schriftsteller einzuladen. Vielleicht waren viele aber auch deshalb gekommen, weil der Enkel von Alfred Ploetz, der Herrschinger Gemeinderat Alfred Ploetz, im Vorfeld angekündigt hatte, er werde es nicht zulassen, dass gegen seinen Großvater gehetzt werde. Der sei nämlich kein Nazi gewesen.

"Das ist falsch", sagte Timm. Aber von Hetze keine Spur. Auch nicht von Diffamierung. Die Idee zu "Ikarien" hatte Timm schon seit 1978, als er "Morenga" abgeschlossen hatte. Sein Schwiegervater, der älteste Sohn von Alfred Ploetz, habe viel erzählt von seinem Vater. Und die Frage, die Timm schon seit "Morenga" umtrieb, stellte sich nun auch bei der Beschäftigung mit dem Eugeniker: "Woher kommt dieser Vernichtungswille? Und wie kann ein so begabter und idealistisch friedfertiger Mensch so abdriften ins rassistische Denken?" Wie könne ein Alfred Ploetz 1917 zur Gründung einer Ortsgruppe der Deutschen Vaterlandspartei aufrufen, die mehr Krieg das Wort redete, wenn er als Eugeniker doch den Krieg ablehnte, weil dessen Opfer immer die Tapfersten und Mutigsten seien? Aber ihm fehlte lange Zeit die Struktur für den Ikarien - und das Geld, damit er sich ausschließlich diesem Roman widmen hätte können.

Vor sechs Jahren hatte Timm dann die zündende Idee. Er verlegte die zwei Handlungsstränge - die des amerikanischen Offiziers Michael Hansen und die Lebensbeichte des Dissidenten Wagner - ins gleiche Jahr 1945. Das Jahr des "Bruchs der deutschen Mentalität, in dem die großen Erwachsenen ganz klein wurden und Angst hatten", erzählte Timm.

Vor sechs Jahren habe er noch gedacht, dass sich ein braunes Deutschland nicht wiederholen könne. "Heute weiß ich, es ist wieder möglich", wenn er den "nationalen Quark" einer AfD höre. Er plädierte an die Familien, über die Vergangenheit zu diskutieren, so schmerzlich das auch sein möge. Der Satz "Opa war kein Nazi" - auch ein Buchtitel - sei nur möglich in Familien, in denen nichts aufgearbeitet werde. Er sei tief beeindruckt von dem neuen "Gedenkbuch für die Münchner Opfer der nationalsozialistischen ,Euthanasie'-Morde". Auch Euthanasie müsse diskutiert werden, forderte Timm. Letztendlich gehe es doch um eins: um die Demut vor dem Leben. "Denn das", sagte er, "ist das Band, das uns bindet."

"Er lebt. Ich bin Zeuge. Er hat überlebt." So beginnt Uwe Timms Roman "Ikarien".

© SZ vom 09.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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