Filmfestival:Schatten des Grauens

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Gezeichnet: die Stögers (Maxim Mehmet, Katharina Nesytowa). (Foto: Bauriedl)

Michael Verhoevens neuer Film "Let's go" befasst sich mit der Sprachlosigkeit von Holocaust-Überlebenden und damit, wie das Unaussprechliche auch noch der nächsten Generation das Licht nimmt

Von Gerhard Summer, Starnberg

Tante Ida ist ein Mordskerl. Auf ihrer Oberlippe sprießt fieser dunkler Bart ("Was guckst du auf meinen Bart?"), ihre Frisur ist ein Helm aus dunklem Haar, und ihre Beine sind wunderbar schief. Sie kann im Bruchteil einer Sekunde einschlafen und losschnarchen, sie ist eine Seele von Mensch. Rau, aber herzlich.

Ida war es auch, die Lauras Mutter damals aus dem Leichenberg gezogen hat. Sie bekam einen Fuß zu fassen, sie zog und zog, bis ihre Schwester zum Vorschein kam, und was sie dann sah, war grauenvoll. Sie braucht ein wenig, bis sie es Laura erzählen kann. Denn ihre Schwester hatte ein totes Baby an den Körper gedrückt. Sie hielt es fest, wie man einen Schatz festhält. Sie wollte es nicht mehr loslassen, sie wollte es beschützen und retten, obwohl der kleine Körper schon kalt gewesen sein muss. Tante Ida musste es ihr wegnehmen. Nein: wegreißen. Wie soll eine junge Frau, die mit einem abgeschlachteten Baby in einem Leichenberg lag, jemals ihre Töchter anfassen und umarmen können, auch wenn sie die Kinder noch so liebt?

Die Schatten des vergangenen Grauens sind mächtig, kalt wie eine Klinge und unberechenbar, sie verfolgen die Menschen, die den Holocaust überlebt haben, und sie nehmen noch der nächsten Generation das Licht. Denn Lauras Eltern reden so gut wie nie über die Zeit im KZ. Michael Verhoeven hat einen Fernsehfilm darüber gemacht. Er heißt "Let's go", hält sich weitgehend an die Vorlage von Laura Wacos Überraschungserfolg "Von Zuhause wird nichts erzählt" und entwickelt die Geschichte zwischen zwei Todesfällen mit einer Unmenge an Rückblenden. Im ersten Moment denkt man: Hm, ob sich die Haupthandlung Ende der Sechzigerjahre so überhaupt entfalten kann? Doch erst nach einer Stunde merkt man zum ersten Mal, wie sehr man längst in diesen aufwühlenden, packenden Film gesogen worden ist.

Die Wirkung hält um so länger an, weil Verhoeven die wichtigsten Rückblenden an den Schluss setzten: die Erklärungen, warum der mürrische und verschrobene Vater, den seine Frau immer nur Meier nennt, bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit "Let's go" sagt und warum die Mutter ihre Töchter nicht anfassen kann. Ein Kunstkniff, der dazu führt, dass der Zuschauer die Geschichte noch einmal im Kopf rekapituliert und an sich vorbeiziehen lässt.

Auf psychologische Erklärungen verzichtet Vorhoeven weitgehend. Warum also schlägt ein Vater, der die Schlächter von Dachau erlebt hat und später eine Tatzenstock-Lehrerin natürlich zur Sau macht, seine Tochter? Das ist ja das Schlimmste an dieser Geschichte über Traumata und scheinbare Schizophrenie: dass die Eltern einiges von dem weiterreichen, was sie durchgemacht haben, und ihren Kindern keine Chance geben, sie zu verstehen.

Laura und Frieda registrieren allenfalls: Den Vater treibt die Angst, als Jude erkannt zu werden. Er ändert den Familiennamen von Steger auf Stöger. Er passt sich an, nur nicht auffallen. Die Wirtschaft, die er zuerst übernimmt, heißt Neuschwanstein. Er sagt Laura: Wenn sie in der Schule gefragt wird, welcher Religion sie angehört, soll sie sagen: musikalisch. Und ihn treibt der Hass auf Deutsche. Ein Deutscher darf nicht Laura vor dem Ertrinken in der Isar retten. Ein Deutscher, der nach einem Unfall hinkt und von dessen Vater man nicht weiß, was er im Krieg gemacht hat, darf sie natürlich auch nicht heiraten. Dann sagt Meier das Schlimmste, was man in so einer Situation sagen kann: "Soll ich mein Kind einem Krüppel geben?"

Der enorme Sog von "Let's go" hat aber auch mit den exzellenten Schauspielern zu tun und der Ausstattungskunst dieses Films. Wer älter ist, wird das wiedererkennen, vielleicht auch aus Erzählungen der Eltern: die dottergelben Münchner Hausfassaden, die Höfner-Gitarre, den unsäglichen Pullunder mit rot-blauem Muster, die großen Milchkannen, die Bierdeckel-Räder der Buben und natürlich den Strand in Jesolo oder Rimini. Auch der Karlsplatz, der Flughafen Riem und die Münchner Borstei tauchen wieder aus der Vergangenheit, rekonstruiert auf dem Computer.

Das Tröstliche an "Let's go" sind die subtilen lustigen Szenen. Sie haben fast kathartischen Effekt. Vorhoeven meinte dazu im Filmgespräch, er habe versucht, den feinen Humor in Wacos Buch zu erhalten. Zwei der schönsten: Die jüdische Familie steht in Italien vor ihrem deutschen Auto, es ist über Nacht mit dem Schriftzug "Nazi" beschmiert worden, zwei Reifen sind platt. Vater Stöger sagt: "Das ist aber eine unfreindliche Aktion". "Ja Meier", antwortet die Frau. Und: Die junge Amerikanerin Lucy hängt mit blankem Busen Reizwäsche auf, unten steht in Reih und Glied eine Abordnung alter bayerischer Kerle und applaudiert. Typisch auch: Auf Leichtigkeit folgt Gewalt, Lucys Freund, ein GI, kommt ins Zimmer und verprügelt sie.

Ganz am Ende, am Grab von Frieda, die Wochen nach dem tödlichen Verkehrsunfall mit ihrem Vater stirbt, passiert dann noch ein kleines Wunder. Die Arme der Mutter zucken, sie kämpft, weil sie doch niemanden mehr anfassen kann, und dann schließt sie Laura in die Arme. Wieder taucht ein Spatz auf, wie er zu Beginn dahergeflattert war. Klar, das mit dem Spatz ist ein bisschen dick aufgetragen. Aber nach so einem Film verzeiht man Verhoeven alles.

© SZ vom 05.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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