SOS-Kinderdorf:"Unser Auftrag ist es, die Kinderrechte zu sichern"

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Erich Schöpflin, Chef des ältesten deutschen SOS-Kinderdorfes, geht in den Ruhestand. In den 13 Jahren unter seiner Leitung ist die Einrichtung stark erweitert worden - und sorgt nun auch für jugendliche Flüchtlinge

Interview von Armin Greune, Dießen

13 Jahre lang hat Erich Schöpflin das SOS-Kinderdorf Ammersee-Lech in Dießen geleitet. Ende November geht er in den Ruhestand, wurde aber bereits mit einem Festakt offiziell verabschiedet. Unter seiner Ägide hat sich das älteste deutsche SOS-Dorf stark weiterentwickelt. So vervierfachte sich die Mitarbeiterzahl auf 240, und auch die Aufgabenbereiche haben sich ständig erweitert: Seit einem Jahr ist etwa die Betreuung minderjähriger Flüchtlinge hinzugekommen.

SZ: Sie sind Diplompsychologe, auch Ihre Nachfolgerin Susanne Dillitzer hat in Psychologie promoviert. Ist diese Ausbildung typisch für die 16 deutschen SOS-Kinderdorfleiter?

Schöpflin: Nein, wir sind da beide eher die Exoten. Normalerweise sind Sozialpädagogen auf dieser Position.

Schildern Sie doch bitte kurz Ihren Ausbildungs- und Berufsweg.

Nach einer Ausbildung als Chemielaborant habe ich das Abitur nachgeholt und in Heidelberg Psychologie studiert. Von 1981 bis 1988 und 1993 bis 2002 war ich bei der Diakonischen Jugendhilfe in der Region Heilbronn tätig - zuletzt im Vorstand des Vereins. Zwischendurch habe ich fünf Jahre lang am Bodensee gearbeitet.

Und wie sind Sie dann auf das SOS-Kinderdorf in Dießen gestoßen?

Da war meine Frau Christa ursächlich beteiligt: Als wir uns im Studium kennengelernt haben, hatte sie bereits eine Ausbildung als SOS-Kinderdorfmutter. Eine Stellenanzeige gab dann den Ausschlag. Christa ist 2004 mit unserer jüngeren Tochter ins Kinderdorf an den Ammersee nachgezogen und hatte hier eine Halbtagsstelle als Psychologin, bis sie vor zwei Jahren in den Ruhestand ging.

Kannten Sie die Gegend schon, bevor Sie 2003 die Stelle in Dießen antraten?

Nein, das war für mich unbekanntes Land. Ich erinnere mich noch, wie ich damals von Landsberg zum Ammersee heruntergefahren bin, bei Sonnenschein, mit Blick auf die Berge - da bin ich sehr schnell dem Charme der Gegend erlegen.

Und wie nutzen Sie den Freizeitwert am Ammersee?

Ich gehe sehr gerne bergwandern und fahre im Winter auch alpin Ski. Außerdem will ich meinen Segelschein künftig unter der Woche ausnutzen - an den Wochenenden war es mir auf dem See meist zu voll.

Was haben Sie dort zum Dienstantritt im Kinderdorf vorgefunden?

Damals gab es einen Kindergarten, sechs SOS-Kinderdorffamilien und eine Wohngruppe für neun Kindern.

Was ist da genau der Unterschied?

In einer Wohngruppe leben bis zu neun Kinder und werden von fünf Fachkräften mit Dienstplänen, die sich am Arbeitszeitgesetz ausrichten, betreut. Oft sind Kinder darunter, die wieder zu leiblichen oder Pflegefamilien rückgeführt werden sollen. In einer Kinderdorffamilie lebt die SOS-Mutter ohne spezifische Arbeitszeitregelung mit bis zu sechs Kindern und wird - etwa zur Urlaubsvertretung - von ein bis zwei Pädagogen unterstützt. Eine Rückführung der Kinder ist meist nicht zu erwarten.

Und wie lange bleiben diese Familien dann bestehen?

Im Schnitt etwa 15 Jahre. Im Mittel ziehen Kinderdorfmütter in ihrem Berufsleben zwei Generationen groß. Aber demnächst geht auch eine Kinderdorfmutter in Ruhestand, die ihre fünf Kinder bis zu 20 Jahre lang betreut hat - die waren null bis drei Jahre alt, als sie nach Dießen kamen. Das Ganze ist übrigens eine sehr erfreuliche Familiengeschichte. Alle Kinder waren bei der Ankunft apathisch und hatten starke Entwicklungsbeeinträchtigungen. Jetzt haben zwei die Mittlere Reife und sind in Ausbildung, eines macht nächstes Jahr Abitur.

Psychologin löst Psychologen ab: Wenn Erich Schöpflin demnächst in Rente geht, übernimmt Susanne Dillitzer die Leitung des Dießener SOS-Kinderdorfes. (Foto: Nila Thiel)

Ist diese positive Entwicklung typisch für Kinderdorffamilien?

Nein, das darf nicht als Beispiel gelten. Es gibt auch manche Enttäuschungen. Und keine Persönlichkeitsentwicklung ist abgeschlossen, da kann es immer dramatische Wendungen geben. Oft bleibt nach dem Austritt die Beziehung zur Kinderdorfmutter und den "Geschwistern" bestehen. Andere brechen den Kontakt ab, nehmen ihn aber vielleicht nach Jahren oder Jahrzehnten wieder auf. Auch deshalb ist es unmöglich, so etwas wie eine prozentuale Erfolgsquote anzugeben.

Wie viele Familien gibt es jetzt in Dießen?

Zehn, eine elfte befindet sich im Aufbau.

Apropos Aufbau, da hat sich ja seit Ihrem Dienstantritt in Dießen auch viel getan . .

. Ja, hier ist das älteste SOS-Kinderdorf in Deutschland mit entsprechendem Erneuerungsbedarf. So musste die ganze Kanalisation ersetzt werden, die Häuser wurden energetisch saniert. Und jetzt geht das neue Blockheizkraftwerk in Betrieb, das die in die Tage gekommenen Ölheizungen ersetzt. Die Gräben vom Wärmeleitungsbau sind ja noch überall zu sehen.

Das klingt so, als hätten Sie einen beträchtlichen Teil Ihrer Arbeitszeit als Bauleiter verbracht.

Diese Aufgabe leisten unsere Hausmeister geteilt. Aber das Bauen liegt mir wohl als Kind einer Handwerkerfamilie im Blut, und so hat sich eine sehr gute Kooperation mit örtlichen Baufirmen entwickelt.

2011 konnte auch das neue Begegnungszentrum "Mosaik" eingeweiht werden.

Ja das war ein Highlight, an das ich mich gern erinnere. Es ist unter Beteiligung der Kinder ein wunderschönes Gemeinschaftshaus geworden: Sie haben das Mosaik an der Fassade entworfen und aufgeklebt.

Und wie haben sich die Familienhäuser inzwischen verändert?

Ursprünglich waren dort zehn Personen auf 100 Quadratmetern untergebracht, das ist nicht mehr zeitgemäß. Deshalb wollen wir in den nächsten Jahren vier Neubauten errichten und sechs Familienhäuser umbauen. Ein Teil der Altbauten könnte dann Mitarbeitern Wohnraum bieten. Für uns ist die Wohnungsnot hier eine große Herausforderung, wir erhalten Bewerbungen aus dem ganzen Bundesgebiet.

Der Standort Dießen hat ja historische Bedeutung: Dort wurde vor 60 Jahren das erste deutsche SOS-Kinderdorf gebaut.

Deshalb hat man vor zwei Jahren entschieden, eines der ursprünglichen Gebäude in der Bausubstanz und mit der originalen Einrichtung zu erhalten. Inzwischen kommen mehr und mehr Schulklassen, um es zu besichtigen.

Wie haben sich in den vergangenen 13 Jahren die Arbeitsschwerpunkte verändert? Wir versuchen, stärker präventiv zu wirken und möglichst früh belastete Familien zu fördern, damit es gar nicht mehr nötig wird, Kinder herauszunehmen. Doch auch die Nachfrage nach den klassischen Wohngruppen nimmt zu. Als ganz neuer Bereich ist die Betreuung minderjähriger unbegleiteter Flüchtlinge hinzugekommen.

Lassen Sie uns damit beginnen. Wie viele Jugendliche sind derzeit unter der Obhut des SOS-Kinderdorfes Dießen?

Wir haben diese Aufgabe für den ganzen Landkreis übernommen und betreuen in Kaufering, Landsberg, Denkklingen und Dießen derzeit 115 Jugendliche. In Dießen sind 22 Jungs im ehemaligen Gasthof Drei Rosen untergebracht. Außerdem sind verschiedene Objekte für Wohngemeinschaften mit etwas älteren Flüchtlingen angemietet, die noch einmal täglich von Betreuern aufgesucht werden. So leben in einem Haus in Dießens Rotter Straße fünf junge Männer, die größtenteils bereits als Asylbewerber anerkannt sind, eine Lehre angetreten haben oder die Berufsschule besuchen.

1956 erfolgte die Grundsteinlegung in Dießen am Ammersee mit Hermann Gmeiner, dem Vater aller SOS-Kinderdörfer. (Foto: privat)

Unser Auftrag ist es, die Kinderrechte zu sichern, dabei ist Bildung ein zentrales Element. Wir wollen ihnen die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Integration vermitteln - aber auch Fähigkeiten, die ihnen in ihren Heimatländern nützen können, falls sie wieder heimkehren.

Inwieweit hat sich das SOS-Kinderdorf auch für Kinder und Eltern in der Umgebung geöffnet?

In Dießen bieten wir zwei Ganztageskindergartengruppen und eine heilpädagogische Gruppe an, sowie einen Schülerhort und eine Krippe. An der Carl-Orff-Volksschule beteiligen wir uns an der Betreuung der gebundenen, am Ammersee-Gymnasium gestalten wir die offenen Ganztagesklassen.

Welche offenen Beratungs- und Unterstützungsangebote gibt es darüber hinaus?

Das beginnt mit dem Bildungsprogramm "Landsberger Eltern-ABC": 17 Kursbausteine für Mütter und Väter, die ihr erstes Kind erwarten. In sechs Jahren haben etwa 5000 Teilnehmer unsere Kurse besucht, neben der Wissensvermittlung liegt der Schwerpunkt auf der Bildung von sozialen Netzwerken. Zudem existieren als niedrigschwellige Angebote offene Eltern-Talkrunden, die vor allem Familien mit Migrationshintergrund erreichen sollen. Das SOS-Kinderdorf hat dafür 20 Moderatoren ausgebildet. Und seit neuestem arbeitet unsere Familienhebamme mit einer halben Stelle in den Sammelunterkünften für Flüchtlinge und unterstützt dort Schwangere.

Das SOS-Kinderdorf hat sich offenbar ziemlich weit in der kommunalen Jugendarbeit des Landkreises ausgebreitet.

Ja, die Vernetzungen sind im Lauf der Jahre immer wichtiger geworden, etwa mit dem Jugendamt und den Schulsozialarbeitern. Mit dem Landkreis haben wir in den vergangenen Jahren sehr erfolgreich zusammengearbeitet, auch in Bereichen, die ja eigentlich nur freiwillige Aufgaben für den Kreistag sind.

Halfen Ihnen bei den Verhandlungen die politischen Kontakte als Dießener SPD-Gemeinderat?

Nicht direkt, aber natürlich sind mir die kommunalpolitischen Entscheidungsprozesse und viele Politiker vertraut.

Wie lange sind Sie schon in der SPD?

Ich bin 1972, zu Zeiten von Willy Brandt, eingetreten.

Und blieben Sie auch im Ruhestand dem Dießener Gemeinderat erhalten?

Bis zum Ende der Legislaturperiode schon, aber 2020 werde ich nicht erneut kandidieren.

Bislang haben Sie ja im Kinderdorf gewohnt, müssen Sie jetzt umziehen?

Natürlich, mit Ende des Dienstvertrags wird auch die Nutzungsvereinbarung für die Wohnung gekündigt. Wir haben zwei Jahre lang nach einem neuen Domizil gesucht und dabei am eigenen Leib gespürt, wie knapp hier erschwinglicher Wohnraum ist. Schließlich sind wir dann in Raisting fündig geworden. Dort werden wir auch wieder einen Garten haben, da kann ich mich wieder im Gelände austoben.

Jetzt aber bricht erst mal Ihr Urlaub an, wohin fahren Sie?

Ich besuche meine alte Heimat im Markgräflerland im äußersten Südwestzipfel Deutschlands. Da helfe ich fast jedes Jahr Anfang Oktober bei der Weinlese und der Kellerarbeit. Mein Neffe hat dort ein Weingut mit fünf Hektar Rebfläche. Auch das Winzern möchte ich nach der Pensionierung intensivieren.

Ich nehme an, die Bezahlung erfolgt in Naturalien. Was gibt es denn da für gute Tropfen?

Wir bauen Gutedel an, einen vorzüglichen Weißwein zum Essen, vor allem aber Spätburgunder für einen ausgezeichneten Rotwein.

Man sagt den Badenern nach, dass ihre mediterrane Lebensfreude im krassen Gegensatz zur Schaffe-Schaffe-Mentalität der Württemberger und zur Sturheit der Bayern steht. So gesehen haben Sie fast ihr gesamtes Arbeitsleben in der Diaspora verbracht. Wie haben Sie das empfunden?

Ach, ich hab mich als Badenser stets willkommen gefühlt. Wenn man sich auf eine Gegend und die Menschen einlässt, lässt es sich überall gut leben und feiern.

© SZ vom 12.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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