Wintersport:Münchner Deichkindl

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Slopestylerin Kea Kühnel fährt erst ihr zweites Jahr im Weltcup-Zirkus - und hat gute Chancen auf die Olympischen Spiele im Februar.

Von Thomas Becker

Allein schon die Vornamen: Kea Deike. Der eine ist auf Hawaii das Wort für Schnee oder weiß und steht im Altfriesischen für Ruhe und Gelassenheit, der andere kommt von Dyke und bedeutet so viel wie Deichgräfin - beinahe logisch also, dass die junge Frau Kühnel aus Bremerhaven Ski fährt. Und das auch noch so gut und spektakulär, dass es womöglich sogar für Olympia langt. Ein Nordlicht bei den Winterspielen? Könnte tatsächlich passieren. Mindestens auf Rang 24 der internationalen Slopestyle-Rangliste muss stehen, wer im Februar in Pyeongchang an den Start gehen will. Derzeit steht die Blonde aus dem Norden, die mittlerweile in München studiert, auf Platz elf - nach einem fünften Platz beim Weltcup in den Pyrenäen, am Tag vor Heiligabend.

Wer als Slopestyle-Wettkämpfer durchs Leben geht, ist Kummer gewohnt. Da gehört ein Wettkampf am Tag vor Weihnachten im französischen 1900-Seelen-Weiler Font Romeu im Nirgendwo der katalanischen Pyrenäen zu den kleineren Übeln. Oft muss er ja immer noch erklären, was man denn überhaupt so tut als Slopestyler. Stylish über die Slope carven etwa? Ein bisschen mehr steckt schon dahinter. Wer den besten Slopestylern zuschaut, wird Mühe haben, all die Salti und Schrauben zu zählen, mit denen sie sich über die Kicker hauen, gefolgt von Kunststücken an den Rails, auf denen die Ski meist quer zur Fahrtrichtung stehen. Nur: Wie kommt man in Bremerhaven auf solche Ideen? Kea Kühnel schiebt die Eltern vor: "Die haben mich schon mit zwei auf Ski gestellt. Und davor im Rucksack rumgefahren."

Kühnels Eltern haben mit Wasser nichts am Hut, sind im Urlaub lieber auf die Bettmeralp in die Schweiz gefahren: 1064 Kilometer hin, 1064 Kilometer zurück und ähnlich viel auf der Skipiste. Der Vater schickt Kea irgendwann zum Bremer Rennkader, es geht in den Harz und nach Thüringen. Dabei ist sie doch eigentlich Turnerin beim TV Spaden. Heute ist sie froh um das dort Gelernte: "Das hilft mir, mit der Airtime zurecht zu kommen. Zu wissen, wo ich bin in der Luft. Die Rotation ist schon so drin im Kopf, das kann ich auf jeden Fall mitnehmen." Auch für ihr ausgefallenes Hobby: Turmspringen. Mit dem Turnen hört sie auf, als sie für ein Jahr nach Taiwan geht - mit 16. Zwei Jahre zuvor war sie über ein Austauschprogramm schon drei Monate in Kanada, in Prince George bei Kamloops in British Columbia, einem El Dorado für Freerider. Sie war allerdings von August bis November dort: kein Schnee, nirgends! Und warum dann noch Taiwan? "Ich wusste gar nicht genau, wo das liegt, wollte aber unbedingt ins Ausland." Ihr Resümee: "Die Zeit dort hat mich verändert, was meine Zukunft angeht."

Zurück in Bremerhaven zieht es sie gleich wieder nach Fernost: Als Dolmetscherin einer zwölften Klasse geht es für einen Monat nach Peking und Schanghai. Dort bleibt sie auch nach dem Abi hängen: Aus dem geplanten halben Jahr werden zwei, ein Studium dort scheitert am Veto der Eltern. Erst jetzt, mit 21, kommen die Ski wieder ins Spiel. In Laax mit seiner riesigen Halfpipe und dem anspruchsvollen Park nimmt sie zum ersten Mal die Free-skier richtig wahr und ist direkt angefixt. Sie recherchiert: Wo leben die meisten Freeskier? Innsbruck. Ergo: Dann studiere ich eben dort! Im ersten Semester ist sie mehr auf dem Berg als an der Uni, wird mit 24 deutsche Meisterin und ist nun mit 26 auf dem Weg zu Olympia. Das BWL-Studium ist erfolgreich abgeschlossen, das Bachelor-Studium in München schon begonnen: Sinologie. Der Olympiastützpunkt Bayern im Olympiapark unterstützt sie, arbeitet mit einigen Unis zusammen, stellt Sportler frei und gewährt Sonderstellungen, was Prüfungen angeht. "Das hatte ich in Innsbruck als Deutsche nicht", erzählt Kühnel und beichtet: "In München war ich erst einmal in der Uni." Aber schließlich steht ja auch Olympia ins Haus.

Zwei Mal unter die besten 15 oder einmal unter die besten Acht: Das sind die Regeln für die deutsche Quali - die hat sie schon mal geschafft. Zuletzt wurde Kühnel Fünfte - beim Big Air in Mönchengladbach, doch diese Disziplin ist nicht olympisch: "Das ist dem IOC zu nah dran an den Aerials", sagt Kühnel, "da sehen sie nicht so viel Potenzial. Big Air wird auch 2022 nicht olympisch." Überhaupt kommt ihr dieses Großereignis Olympia eigentlich zu früh: "Das ist ja erst meine zweite Saison im Weltcup-Zirkus. Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit für alles, mehr Erfahrung, mehr Selbstvertrauen bei Schlechtwetter-Tagen." Sie spürt den Druck, immer an die Grenze gehen zu müssen, etwas zu machen, was Andere nicht machen: "Die Kicker werden immer größer, die Shaper wollen sich ständig gegenseitig übertreffen und immer noch krasser bauen. Und ein Easy-Run reicht halt nicht." Hinzu komme, dass die Verhältnisse bei jedem Wettkampf anders sind, man sich ständig anpassen müsse: "Zwei Tage je drei Stunden Training: Das macht maximal zehn Runs, abzüglich schlechtem Wetter - da ist der Kopf gefragt!" Ab und zu hilft ein Mentalcoach, gibt Tipps für Situationen wie diese: "Sturz im ersten Run: Gehe ich im zweiten Run jetzt ,all in' oder auf Sicherheit? Oder wenn ich einen neuen Trick gelernt habe: Wie gut sitzt der schon? Geht der auch im Wettkampf? Das ist alles stressig, aber auch schön, abenteuerlich, aufregend."

Aufregend ist auch ihr Lieblingstrick: ein Cork 7er, also eine Schraube mit zwei Drehungen. "Den springe ich komplett anders als alle anderen", sagt sie stolz, "hab' ich mir selbst beigebracht, ist mein Signature-Trick geworden. An dem kann ich noch viel feilen, auch wenn jetzt wenig Zeit ist, um neue Tricks zu lernen." Was zuletzt gefehlt hat, weiß sie auch, dank der Tipps von Freund Severin Guggemoos, der ab und zu mitcoacht: Rail-Tricks. "Da kann ich noch Punkte holen. Ich habe mich zu sehr auf die Kicker fokussiert. Es ist noch Luft nach oben - und die muss ich jetzt mal füllen." Nominierungs-Deadline ist der 21. Januar, davor geht es noch zu Weltcups nach Aspen und Mammoth Mountain. Und selbst wenn es diesmal doch nichts wird mit Olympia, dann hat die Deichgräfin mit dem China-Fimmel beim nächsten Mal sozusagen ein Heimspiel: 2022 in Peking.

© SZ vom 02.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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