Serie "Auswärtsspiel":Die Zeit fliegt

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Taciana Racende de Lima reist durch alle Kontinente, um ihre Gegnerinnen auf die Judomatte zu zwingen. Seit diesem Jahr kämpft sie für Erstligist Großhadern

Von Julian Ignatowitsch, München

Taciana Racende de Lima ist eine zierliche Person: 1,60 Meter klein, 48 Kilogramm leicht - so stellt man sich nicht unbedingt eine Kampfsportlerin vor. Doch wenn die 30-Jährige auf der Matte steht und ihr Gegenüber durch die Luft schleudert, lernt man schnell ihre andere Seite kennen. Mit dieser Frau möchte man sich besser nicht anlegen.

Seit diesem Jahr kämpft Lima für den Judo-Bundesligisten TSV Großhadern. Deutschland und München sind jetzt so etwas wie ihre zweite Heimat. Oder doch erst dritte, ja vierte Heimat? "Schwer zu sagen", sagt Lima. Immerhin kann sie vier Staaten auf drei Kontinenten ihr Zuhause nennen. Lima ist in Brasilien geboren, hat einen Pass des afrikanischen Landes Guinea-Bissau, lebt in Lissabon und kämpft auf Vereinsebene neuerdings in München. Aber der Reihe nach.

Lima wuchs in Olinda auf, einem Flecken im Nordosten Brasiliens. Das Küstenstädtchen wird in Reiseführern seiner barocken Architektur und seiner weißen Sandstrände wegen gerne als Juwel angepriesen. Tatsächlich steht es seit 1982 auf der Liste des Weltkulturerbes der Unesco und war eine der frühesten Kolonialsiedlungen, in der sich gleich mehrere katholische Orden niederließen. "Ich habe dort bis vor einem Jahr gelebt", sagt Taciana Lima. Dort hat sie auch mit dem Judo angefangen. Ihre kleine Schwester habe zuerst trainiert, dann habe sie es auch probieren wollen und sei sehr schnell sehr gut geworden. Ihren leiblichen Vater hat Lima lange nicht gekannt. Vor einem Jahr traf sie ihn zum ersten Mal, mit 29 Jahren. Er kommt aus Guinea-Bissau, einem Land an der Westküste Afrikas, das viele Europäer gar nicht kennen. Wie Brasilien war es bis zu seiner Unabhängigkeit im Jahr 1973 portugiesische Provinz. Nach dem Human Development Index ist es eines der am geringsten entwickelten Länder. Lima nahm die Nationalität ihres Vaters als zweite Staatsbürgerschaft an - vermutlich auch aus sportlichen Gründen, so genau will sie sich dazu nicht äußern. Ihre Antworten sind kurz und schnörkellos, aber immer freundlich.

Erst vor kurzem ist sie nach Europa gezogen, nach Lissabon. Dort spricht man ihre Sprache, "dort bin ich näher zu den ganzen sportlichen Wettbewerben". Auch ihr neuer Verein liegt nun vergleichsweise nah: 1965 Kilometer Luftlinie sind es nach München, Olinda ist viermal so weit entfernt. "Ich war dieses Jahr zum ersten Mal in München, vorher kannte ich nur Düsseldorf und Hamburg", erzählt sie. Wie sie Deutschland findet? "Ich fühle mich hier sehr wohl. Die Leute sind nett und höflich." Schon jetzt ist Lima eine echte Leistungsträgerin im Team der Münchner. Vier Mal trat sie für Großhadern an, vier Mal holte sie den Punkt für ihre Mannschaft. Meistens benötigte sie nicht einmal die halbe Kampfzeit, um ihre Gegnerin mit Yuko, einer großen Wertung, auf den Boden zu legen. Nur einmal musste sie über die volle Distanz gehen. "Unter der Woche trainiere ich in Lissabon bei einem Judoverein", erklärt sie. Wenn die Sportlehrerin am Wochenende in München ist, kommt sie bei einer Teamkollegin unter. Am Morgen nach dem Kampf fliegt sie sofort weiter.

Und dann langsam einarbeiten: Taciana Lima, 48 Kilo komprimierte Energie, stürzt sich auf ihre Gegnerin. (Foto: Getty)

Zeit ist eine knappe Ressource. Beim Bundesligafinale am 27. September wird sie dem TSV Großhadern fehlen.

Gerade in den Leichtgewichtsklassen zählt jedes Kilogramm. Im Idealfall kommt Lima beim Wiegen vor dem Kampf auf exakt 48 Kilogramm. Das ist ihre Gewichtsklasse, darauf muss sie ihren Trainings- und Ernährungsplan abstimmen. "Wenn ich einen Wettkampf habe, fahre ich das Training etwas runter und achte besonders auf mein Gewicht", sagt Lima, die in diesem Jahr schon einen Reisemarathon hinter sich hat. Düsseldorf, Budapest und Samsun in der Türkei, der Grand Slam in der sibirischen Stadt Tjumen, die European Open in Rom und Warschau, die Weltmeisterschaft in Tscheljabinsk. "Und, ach ja, auf Mauritius war ich bei den afrikanischen Meisterschaften." Dort hat Lima im Juni gewonnen, sie darf sich zurzeit beste afrikanische Judokämpferin nennen.

Auch sonst verläuft ihre Saison erfolgreich: Vier Medaillen (einmal Silber, dreimal Bronze) hat sie bei internationalen Turnieren gesammelt, in der Weltrangliste steht sie auf Position sechs. Ausgerechnet die Weltmeisterschaft im August verlief aber nicht nach Plan. Dort scheiterte Lima in der zweiten Runde an der späteren Finalistin Paula Pareto aus Argentinien.

"Eine WM-Medaille ist weiterhin ein Traum", sagt sie. Der noch größere sind, natürlich, die Olympischen Spiele 2016 in Rio de Janeiro. In Brasilien, ihrem Geburtsland, in dem Taciana Racende de Lima 29 Jahre lang gelebt hat. Bis jetzt liegt sie auf Kurs. Für den sportlichen Erfolg hat sie ihre erste Heimat aufgegeben. Familie und Freunde sieht sie selten, der Sport steht an erster Stelle. Nach ihren Kämpfen liegt sie oft mit geschlossenen Augen auf dem Rücken, völlig ausgepowert. Ein Moment der Meditation, um aufzutanken. Dafür bleibt sonst zu wenig Zeit für diese Frau voller Energie.

Bisher erschienen: N. Sriram Balaji, Tennisprofi (7.8.); Michael Elmer, Eishockeytrainer (9.8.); Patrick Steuerwald, Volleyballprofi (14.8.); Carlos Escribá Liñero, Hockeytrainer (21.8.); Daniel Heidemann, Fußballtrainer (23.8.); James Craig, Footballtrainer (26.8.); Martin Smolinski, Speedway-Profi (28.8.); John David Hillis, Galopptrainer (30.8); Orkan Balkan und Yasin Yilmaz, Fußballer (3.9.); Nicolas Pohler, Formel-3-Pilot (6.9.); Juan José Castillo Duque, Fußballer (10.9.).

© SZ vom 18.09.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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