Rock 'n' Roll:Tanz durch die Lüfte

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Die Rock 'n' Roller des SV Anzing veranstalten eine Heim-WM. Vor ihren Fans müssen sich die ehemaligen Weltmeister vor allem mit den Flugkünstlern aus Russland messen.

Von Andreas Liebmann, Poing

Ach ja, "eins noch", sagt Robert Obermeier zum Abschied, und dann folgt ein Satz, der so gar nicht zur Euphorie des Abends passt: "Der Sport ist tot."

Es ist spät geworden am Mittwoch. Die Ränge der Poinger Sporthalle leeren sich. Ziemlich viele Leute haben die Rock 'n' Roller des SV Anzing bei deren letztem öffentlichen Training angefeuert, darunter einige, die für die Welt- und Europameisterschaft an diesem Samstag keine Karten bekommen haben. Die Veranstaltung in Poing ist völlig ausgebucht. Die letzten Tänzer packen ihre Taschen. Obermeier steht in der leeren Halle, er trägt die weiße Jacke mit schwarz-rot-goldenem Aufdruck, die der Verband ihnen spendiert hat, weil sie am Samstag ja mal wieder ihr Land vertreten. Er sieht müde aus. Dann fragt er: "Sechs russische Formationen und drei deutsche - ist das noch eine WM?"

Der kleine SV Anzing kennt sich aus mit dem Thema. Seine Formationen haben an zig interkontinentalen Meisterschaften teilgenommen, mehr: Die aktuelle Top-Formation "Rock-'n'-Roll-Dream-Team" ist dreimaliger Weltmeister. Ihre Vorgänger "Kisses" hatten ebenfalls mehrere Titel inne, und die Trainer seit 1998, Tini Jana-Obermeier und ihr Mann Robert, waren zu ihrer aktiven Zeit mit diversen Teams ebenfalls mehrmals Weltmeister.

Eine Figur geht schief, ein Salto gerade noch gut, da bricht eine Tänzerin ab. "Bei dem Stress dreht man durch", erklärt sie später

Obermeier, 61, weiß, woran die Sache krankt: die Akrobatik. "Davor schrecken die meisten Nationen zurück." Die russischen Formationen (insgesamt elf sind angemeldet) trainieren unter Profibedingungen, können nach Belieben feilen und aussieben. Ihre Flugelemente sind spektakulär. "Das kann man nicht leisten, wenn man drei, vier Mal pro Woche trainiert", weiß Obermeier. Nach Feierabend. Weshalb Kroaten, Tschechen, Ungarn, Polen, Österreicher, Slowenen und Schweizer am Samstag nur in der Nachwuchs- und der Ladies-Klasse antreten. In der Hauptkategorie wirbeln nur russische und deutsche Gruppen. Topfavorit sind mal wieder die "Rock Comets" von Spartak Moskau.

Schleuderpreis? Ohne spektakuläre Elemente wie dieses haben Rock-’n’-Roll-Formationen wie das Anzinger Dream Team heute international keine Chance mehr. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Die Generalprobe ist gut gelaufen, aber nicht reibungslos. Je dreimal treten die "Twickers" (Ladies), das "J-Team" (Junioren), der "Rockers Club" und das "Dream-Team" (beide Hauptklasse) mit ihren Übungen auf. Einmal fehlt im J-Team eine Tänzerin, ihr Partner tanzt alleine und lässt sich nichts anmerken. Gleich im ersten Durchlauf bricht beim Rockers Club eine Athletin mitten in der Vorführung ab, kauert verzweifelt an einer Weichbodenmatte, während die drei anderen Paare weitertanzen. Und im Dream Team landet eine junge Frau mit derart schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Rücken eines Partners, dass sie nach Luft schnappt und man das Schlimmste befürchten muss. Genau hier sieht man, worum es geht.

"Ich habe Panik bekommen", erklärt Caroline Lutsche vom Rockers Club später. Am Ellbogen des Teenagers schauen bunte Tapes aus den langen Handschuhen ihres Kostüms hervor. Recht kurzfristig hatten sie die Formation wegen einiger Ausfälle umgestellt, es klappt noch nicht alles. Ein Element ging schief, dann sei ein Salto gerade noch gut gegangen, "bei dem Stress dreht man durch", erzählt sie. Es ist Teil der neuen Weltverbandsregeln, dass Akrobatik-Elemente von allen Frauen gezeigt werden müssen, um gewertet zu werden - bislang genügte es, wenn sich mal nur zwei für eine gefährliche Einlage durch die Luft schleudern ließen. Als sie von ihrem Malheur erzählt, ist Lutsche keineswegs niedergeschlagen, denn im zweiten und dritten Durchgang hat dann alles geklappt. Ihre Trainerin Tini Jana-Obermeier kniete vor den vier Paaren, brüllte Anweisungen, johlte, als alle sicher landeten. Die riskanten Flugelemente sind noch wichtiger geworden. Vor drei Jahren, erzählt Robert Obermeier, sei er als Formationsbeauftragter des Weltverbands zurückgetreten. Ein ganzes Konzept habe er geschrieben, mit dem Ziel, die Akrobatik etwas ab- und Tanz und Ausdruck aufzuwerten, doch er drang damit nicht durch. Am Samstag wird allein die Akrobatik 50 Prozent der Gesamtnote ausmachen.

Und das Dream Team, die ehemaligen Weltmeister? Sind vor allem mal dezimiert. Wie auch der Rockers Club mussten sie vor Wochen verletzungsbedingt von sechs auf vier Paare umstellen. "Wir haben gesagt, ehe wir gar nicht tanzen, probieren wir es so", erklärt Obermeier, "und es klappt gut."

Die junge Frau mit dem schmerzverzerrten Gesicht ist seine Tochter Sonja. Gekrümmt schleppt sie sich zum zweiten Auftritt. Mit Einsetzen der Musik strahlt sie - diesmal bis zum Ende. "Sie hat starken Husten und akute Atemnot", erklärt der Vater, "und ein Asthmaspray darf sie nicht nehmen, weil es auf der Dopingliste steht." Also: Durchhalten. Der zweite Versuch des Dream Teams ist so gut, dass Abteilungsleiter Markus Fischer den Zuschauern zujubelt: "Da darf der Russe keinen Fehler machen, sonst ist das schnell erledigt." Obermeier ballt die Fäuste, klatscht, dass ihm fast die Hände abfallen. Es ist ja nicht ganz so, wie er es am Ende des Abends sagt, dass keiner das mehr leisten könne. In Anzing können sie es. Acht verschiedene Sprünge zeigt das Dream Team, mehrere Doppelsalti. "Da können wir mithalten", glaubt der Trainer, "das ist der Hammer. Das hat noch nie eine deutsche Mannschaft gezeigt." Es kostet Kraft und Überwindung. Und Arbeit.

Bis Samstag, verspricht Spartenleiter Fischer, werde die Sporthalle "nicht wiederzuerkennen sein", vor der Tanzfläche wird für die 800 Zuschauer eine Tribüne stehen. Auch Obermeier greift einmal zum Mikro, er fordert das Publikum auf, am Samstag Gas zu geben: "Wir brauchen nicht euer Zuschauen, sondern eure Power!" Er erinnert an den Titel von St. Petersburg 2008, wo in der Endrunde "keiner einen Pfifferling auf uns gegeben hat" - dann raubte man den Russen den Titel in deren Land. Nun hofft er auf ein neues Wunder. Hat ja niemand behauptet, dass der Sport in Anzing tot wäre.

© SZ vom 14.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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