Radsport:"Na, du bist Weltmeister!"

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Zehn Monate, nachdem er sich sein erstes Rennrad gekauft hat, gewinnt Paracycler Tobias Vetter WM-Gold.

Von Raphael Weiss, Glonn

Bei der Weltmeisterschaft in Pietermaritzburg, Südafrika, war Tobias Vetter ein Newcomer. Keiner hatte den Mann auf dem Zettel, der sich zehn Monate zuvor sein erstes Rennrad gekauft hatte. 84,5 Kilometer fuhr Vetter in der Hauptgruppe, bekam mit, wie Fahrer vor ihm ausrissen, aber nicht, ob sie wieder eingeholt wurden. Kein Motorrad, das den Abstand auf die Führenden anzeigte, kein Trainer, der den Fahrern über Funk die Taktik ins Ohr flüsterte. Vetter, 35, konzentrierte sich auf sich selbst, wollte sein Rennen so gut wie möglich zu Ende fahren. 500 Meter vor dem Ziel zog er an.

Keiner im Feld hatte mit einer so frühen Attacke gerechnet, schon gar nicht von ihm. Vetter war nicht mehr einzuholen. Als er die Ziellinie überquerte, riss er nicht die Arme nach oben, sondern rollte einfach weiter. Als er abbremste, kam sein Team auf ihn zu gerannt, Menschen umarmten ihn, legten ihm die deutsche Fahne um die Schultern. "Ich stand versteinert da und hab gefragt, wievielter ich geworden bin", erinnert sich Vetter. Die Antwort: "Na, du bist Weltmeister!"

"Paracycling ist das Beste, was mir passieren konnte. Du gewinnst Selbstbewusstsein."

Vetter spricht über die Ereignisse Anfang September so, als hätte er noch immer nicht realisiert, was passiert ist, dass er tatsächlich Weltmeister im Paracycling ist, im Straßenrennen der Radrennfahrer mit Handicap. "Ich dachte, das kann doch alles gar nicht wahr sein. Da bist du bei der WM in Südafrika, musst direkt zur Siegerehrung und bist total überwältigt."

Vetter, ein athletischer Mann mit raspelkurzem Haar und freundlichem Blick, wurde in Gera geboren, seine Familie war sportbegeistert, sein Vater Leichtathlet, sein Bruder und er spielten Fußball. Schon damals war Vetter für seine Ausdauer bekannt. "Ich bin immerzu den Platz rauf und runter gerannt", sagt er. Mit 17 Jahren hatte er einen Motorradunfall. Als er im Krankenhaus aufwachte, waren seine linke Hand und sein linker Fuß verbunden. Ihm war klar, dass er sie nie wieder so benutzen können würde wie zuvor. "Wenn du da aufwachst, denkst du, dein Leben ist vorbei", sagt Vetter. Jahre später wird der Behindertensportverband sein Handicap der Kategorie C4 zuordnen - sonstige körperliche Einschränkungen an den unteren Extremitäten.

Die letzten Meter bis zum WM-Titel: Tobias Vetter (r.) im Schlussspurt von Pietermaritzburg. (Foto: Oliver Kremer/sports.pixolli.com)

Monatelang lag er im Krankenhaus, mehr als ein Jahr war er auf Krücken angewiesen. Seit seinem Unfall kann er keine Laufsportarten mehr betreiben. Schwimmen, Radfahren, Fitness, das waren die Optionen, die ihm sein Arzt empfahl. Vetter entschied sich für das Fitnessstudio. "Ich war schon immer ein Kämpfertyp. Rumsitzen war für mich nix, ich musste mich dagegen wehren."

Zehn Jahre lang machte er Fitnessport, bis er sich irgendwann ein Mountainbike kaufte, um in der Natur sein zu können. 2012 zog er für seine Freundin von Gera nach Heimstetten. Dort veranstalteten Freunde von ihm Mountainbike-Marathon-Rennen. Irgendwann begleitete er sie und fuhr mit, bald einmal pro Monat, dann öfter. Vetter merkte, dass er Talent hat, dass er mit den "Gesunden", wie er sagt, mithalten konnte, kam regelmäßig in die Top Zehn. Bei den Rennen trug er eine lange Hose, da er nicht nur auf sein Handicap reduziert werden wollte.

Im vergangenen Jahr begann er sich für Paracycling zu interessieren. Also kaufte er sich ein Rennrad, trainierte den Winter über auf der Rolle und startete im April bei seinem ersten Rennen. "Ich dachte, ich probiere es einfach mal aus - die Haltung und Technik sind im Vergleich zum Mountainbike komplett unterschiedlich", sagt Vetter. Er wurde Achter im Einzelzeitfahren, mit einem Rennrad. "Aus Kostengründen mache ich, anders als die meisten Teilnehmer, alles mit nur einem Rad: Straßenrennen, Zeitfahren, Training." Da Behindertensport kaum in den Medien vertreten sei, sei es schwer, Sponsoren zu finden. "Man muss als Handicap-Sportler schon sehr viel mehr um Anerkennung kämpfen", erklärt Vetter. Reisekosten zu Wettkämpfen wie zur WM muss er großteils selbst tragen, Materialkosten sowieso.

Mit seinem einzigen Fahrrad startete er im Mai für den Behinderten-Sportverein München bei den bayerischen Meisterschaften - und wurde Zweiter. Im Juni erreichte er etwas, das er sich niemals erträumt hätte: Vetter wurde deutscher Meister im Straßenrennen. "Da denkst du dir, das ist doch wahnsinnig, überwältigend." Im Juli wurde er bei einem Weltcup Fünfter, es folgte die Berufung in die Nationalmannschaft. Beim Europacup in Elzach war er Zweiter. Dann kam der WM-Titel. "Paracycling ist das Beste, was mir passieren konnte", sagt Vetter, der an diesem Sonntag seinen 36. Geburtstag feiert. In nicht mal einem Jahr erreichte er mehr als andere in ihrer gesamten Karriere. "Du gewinnst sehr viel Selbstbewusstsein."

„Da denkst du dir, das ist doch wahnsinnig, überwältigend.“ – Tobias Vetter mit Goldmedaille im Trikot des Weltmeisters. (Foto: Oliver Kremer/ sports.pixolli.com)

Doch Vetter hat noch große Pläne. 2017 kommt er auf rund 8000 Trainingskilometer - die meisten davon in der Nähe von Glonn (Kreis Ebersberg), wo er seit einigen Jahren lebt. Seine Konkurrenz mache locker das Dreifache, sagt er. Aber neben seiner Arbeit bei der Stadt und seiner Familie bleibe nicht mehr Zeit. "Ich würde gerne ein paar Kilometer mehr machen, aber ich arbeite Vollzeit", sagt Vetter. "Meistens trainiere ich nach Feierabend oder am Wochenende." Sein großes Ziel sind die Paralympics 2020 in Tokio, doch im nächsten Jahr möchte er zunächst einmal seine WM- und DM-Titel verteidigen. Ein Sieg, so Vetter, werde schwieriger als dieses Jahr: "Ich war Newcomer, keiner kennt dich, keiner achtet auf dich. Nächstes Jahr, im Weltmeistertrikot, wird das anders werden." Doch auch, wenn es die Konkurrenz warnt und im Rennen ein Nachteil ist sagt Vetter: "Dieses Trikot trage ich mit Stolz."

Am vergangenen Wochenende, beim letzten Eurocup-Rennen des Jahres in Prag, durfte er das weiße Dress mit den Regenbogenstreifen zum ersten Mal offiziell tragen. Geschadet hat es nicht. Vetter wurde Erster - im Straßenrennen und im Zeitfahren.

© SZ vom 07.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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