Radsport:Mono-Kultur

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Anna-Lena Blaschke lotet täglich die physikalischen Grenzen dessen aus, was auf einem Einrad möglich ist - und verschiebt sie. Mit 19 Jahren ist die Erdingerin bereits zweimalige Weltmeisterin in ihrer Spezialdisziplin, dem Downhill-Gliding

Von Fabian Swidrak, Erding

Als Anna-Lena Blaschke mit ihrem Vater über die Grenzen des physikalisch Möglichen diskutierte, war sie zehn Jahre alt. Einbeinig, behauptete er, könne man nicht Einrad fahren. Auf dem Fahrrad funktioniere das schließlich auch nicht. Die Tochter grinst, als sie sich an das Gespräch mit ihrem Vater erinnert. "Angenommen, ein Kind kann schon frei fahren, dann brauche ich vier Stunden, bis es die ersten Meter einbeinig schafft", sagt sie und fährt im Stehen mit dem Einrad auf und ab, während der Sattel hinter ihr auf dem Boden schleift. "So viele Dinge erscheinen zunächst nicht möglich, bis man sieht, dass es doch geht."

Heute gehört auch Anna-Lena Blaschke, 19, langes blondes Haar, freundliches Lächeln, zu den Fahrern, die Grenzen verschieben, an denen andere erkennen können, was alles möglich ist. "Wer einbeinig und rückwärts fahren kann, lernt eben einbeinig rückwärts zu fahren", sagt die Erdingerin, die zu den besten Einradfahrerinnen der Republik zählt. Im sogenannten Downhill-Gliding ist sie sogar zweimalige Weltmeisterin. Anfang August verteidigte sie ihren Titel von 2014 im spanischen Donostia-San Sebastián erfolgreich. Ziel ihrer Paradedisziplin ist es, eine asphaltierte Strecke bergabwärts schnellstmöglich zurückzulegen und die Füße dabei nicht auf den Pedalen abzustellen, sondern mit ihnen auf dem Reifen zu bremsen. Nicht zu viel, um möglichst schnell zu sein. Aber genug, um nicht die Kontrolle über das Rad zu verlieren. Die Strecken sind steil, in Spanien betrug das Gefälle zehn Prozent. So steil also, dass man als Durchschnittspedaleur bergaufwärts absteigen und schieben würde. Bis zu 30 Stundenkilometer erreichen Blaschke und ihre Kontrahentinnen auf einer solchen Strecke. Kontrolle ist da vor allem eine Frage von Konzentration. "Man muss alles andere ausblenden. Wenn du ans Abendessen denkst, macht es batsch." Die Verletzungsgefahr sei dennoch vergleichsweise gering. "Es gibt keinen Lenker, über den man fallen könnte."

Ihr erstes Einrad bekam Blaschke geschenkt, als sie in der zweiten Klasse war. Ein Jahr fuhr sie damit nur auf der Straße. Als dann in Neufahrn die bayerische Meisterschaft im Einrad-Freestyle stattfand, kam der Kontakt zum TSV Dorfen zustande, für den sie noch heute fährt. Auf 14 verschiedene Einräder ist ihr Fuhrpark inzwischen angewachsen. Ein wettkampftaugliches Rad kann schon einmal 500 Euro kosten. Auch die Reisen zu den internationalen Turnieren muss Blaschke selbst zahlen, verbindet die Wettkampfe aber meist mit Urlaub. In San Sebastián habe sie Surfen gelernt, erzählt sie. "Eine Weltmeisterschaft ist die billigste Art irgendwo unterzukommen, weil man in Turnhallen oder Klassenzimmern schläft." Der Einradsport ist für Blaschke heute auch ein Ausgleich zum Uni-Alltag. Nach dem Abitur vor einem Jahr nahm sie eine Karte zur Hand und suchte nach Universitätsstädten in Süddeutschland mit Medizinstudiengang und großem Einradverein. "Zusammen gab es das nur in München", sagt Blaschke, deren Eltern beide Tiermedizin studiert haben. Sie habe sich allerdings nicht deshalb für ein Medizinstudium entschieden, auch wenn "man nicht weiß, was da unterbewusst abläuft". Vielmehr wollte die Erdingerin ein Studium mit klarem Berufsziel. Auch über Lehramt habe sie daher nachgedacht.

Mit ihrem Sport jedenfalls wird Blaschke auch in Zukunft kein Geld verdienen. Sie wird auch nicht alle paar Jahre in den Fokus einer größeren Öffentlichkeit rücken. Einradsport ist nicht olympisch und gehört auch nicht zum Programm der für weniger populäre Sportarten geschaffenen World Games. Der Einradverband Deutschland (EVD) ist vom Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) nicht einmal als Fachverband anerkannt. Auch die in New York sitzende International Unicycling Federation (IUF) zählt nicht zu den Sportfachverbänden des Internationalen Olympischen Komitees (IOC). "Die IUF hat derzeit sehr viel damit zu tun, die Wettkampfbewertung zu digitalisieren", sagt Blaschke, um zu verdeutlichen, dass ihre Sportart mit vermeintlich weitaus banaleren Problemen zu kämpfen hat. In seiner aktuellen Form ist der Einradsport zudem unübersichtlich. Bei Weltmeisterschaften gibt es mehr als 30 zugelassene Disziplinen, darunter Marathon, Weitsprung, Basketball und Stillstand, das Spezialgebiet von Weltrekordhalterin Ana Schrödinger, 21, aus München, die ihren WM-Titel in San Sebastián ebenfalls verteidigte. "Es ist kaum möglich, sich auf ein erträgliches Programm zu einigen", sagt Blaschke. "Wir sind definitiv noch nicht olympiareif."

Blaschkes sportliche Höhepunkte bleiben daher vorerst Welt- und Europameisterschaften. Dafür trainiert sie nicht nur in ihrem Verein, sondern auch mit dem Freestyle-Team Bayern, einer Landesauswahl des bayerischen Einradverbands. Eine Nationalmannschaft gibt es noch nicht. 2017, wenn die EM in den Niederlanden stattfindet, wird Blaschke allerdings nicht dabei sein. An der Universität in München muss sie dann das erste Staatsexamen ablegen. Und an zwei Orten gleichzeitig zu sein, das ist nun wirklich physikalisch unmöglich.

© SZ vom 29.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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