Radsport:Höhen und Tiefen

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Corinna Lechner und Claudia Lichtenberg starten mit unterschiedlichen Zielen bei der deutschen Straßen-Radmeisterschaft

Von Fabian Swidrak, München

Die Zahnärzte hätten sie erstaunlich gut wieder hinbekommen, sagt Corinna Lechner und lacht. Nur noch wenige Kilometer waren es am Sonntag bei einem Rennen in Belgien bis zum Ziel, als zwei Fahrerinnen vor ihr stürzten. Lechner konnte nicht mehr bremsen, flog nach vorne über den Lenker von ihrem Rad und schlidderte mit dem Gesicht über den Asphalt. Die Schneidezähne seien etwas in Mitleidenschaft gezogen worden und einige Kratzer habe sie, erzählt Lechner. Nichts Wildes also, wie sie findet. Und den Start bei den deutschen Straßen-Radmeisterschaften an diesem Wochenende in Erfurt und Streufdorf (Thüringen) werde der Sturz schon gar nicht verhindern.

Zum vierten Mal nimmt Lechner, 21, in der Eliteklasse der Frauen teil. Beim Einzelzeitfahren am Freitag (14 Uhr) wird sie nach zwei achten Plätzen in den vergangenen beiden Jahren erstmals zu den Podestanwärterinnen gehören. "Ich möchte auf jeden Fall unter die besten Fünf kommen, das Podium wäre natürlich geil", erklärt Lechner, die 2012 deutsche Meisterin im Einzelzeitfahren der Juniorinnen wurde und bei der Straßen-Europameisterschaft 2015 Bronze in der Altersklasse U23 holte.

Vor drei Jahren zog die gebürtige Fürstenfeldbruckerin nach Erfurt, wo sie parallel zum täglichen Training in der Sportfördergruppe der Thüringer Polizei ausgebildet wird. Damals habe sie gar nicht dauerhaft nach Erfurt gewollt, erzählt Lechner. Die Winter seien für die Ausbildung gedacht gewesen, die Sommer für den Radsport in München. Heute schafft sie es nicht einmal mehr regelmäßig, einmal pro Monat nach Bruck zu kommen. Denn am Olympiastützpunkt in Erfurt hat sie die Möglichkeit, gemeinsam mit den Junioren der Männer zu trainieren. In der Frauen-Bundesliga fährt sie für das Team aus Waltershausen (40 Kilometer westlich von Erfurt), und sie ist augenscheinlich gut in Form: Dreimal fuhr Lechner in dieser Saison schon aufs Podium, den Auftakt in Cadolzburg gewann sie sogar. Die deutsche Meisterschaft ist nun eine Art Heimrennen: "Ich kenne den Kurs, habe oft dort trainiert. Eine Strecke mit vielen Kurven, es geht viel hoch und runter", sagt Lechner.

Der Radfahrerin liebste Farbe: Die Wolfratshauserin Claudia Lichtenberg radelt beim Prolog des Grand Prix Elsy Jacobs in Luxemburg. (Foto: imago/Gerry Schmit)

Es ist eine Strecke, wie gemacht für Claudia Lichtenberg (geborene Häusler), eine ausgewiesene Spezialisten für Kurse mit großen Höhenunterschieden. Umso mehr wurmt es die 30-Jährige vom RSC Wolfratshausen, dass sie ihren Start beim Einzelzeitfahren am Freitag wegen eines Magen-Darm-Infekts absagen musste. Am Donnerstag saß die Gewinnerin des Giro d'Italia Femminile von 2009 zwar schon wieder auf dem Rad, noch fühlt sie sich aber nicht fit genug: "Ich bin ein bisschen traurig. Aber ich kann nicht zaubern, ich bin keine Maschine", sagt Lichtenberg, die erst am vergangenen Wochenende Gesamtzweite beim Giro del Trentino in Südtirol wurde. "Es lief zuletzt wirklich gut. Ich hoffe, dass ich in zwei Wochen nichts mehr von dem Infekt merke", meint sie.

Beim Straßenrennen am Sonntag will Lichtenberg auf jeden Fall starten, egal wie gut sie sich bis dahin wieder fühlt: "Ich will ein aggressives Rennen fahren. Mal sehen, wozu das dann reicht." Ihren zweiten Platz aus dem Vorjahr im hessischen Bensheim wird die angeschlagene Lichtenberg kaum verteidigen können. Sich aber überhaupt nicht bei den deutschen Meisterschaften blicken zu lassen, kann sie sich derzeit schlicht nicht erlauben. Denn am 12. Juli nominiert der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) die letzten Athletinnen und Athleten für die Spiele in Rio de Janeiro.

Auch André Korff, Bundestrainer für den Straßenrennsport der Frauen, muss sich bis dahin auf seinen Kader festlegen. Lichtenberg macht sich berechtigte Hoffnungen, dabei zu sein, andernfalls wäre sie "zutiefst enttäuscht". Es wäre ihre zweite Reise zu Olympischen Spielen und soll dennoch ihre erste Teilnahme werden. Vor vier Jahren war Lichtenberg bereits in London. Zwei Tage vor dem Straßenradrennen, für das sie vorgesehen war, nominierte der Bund Deutscher Radfahrer jedoch die Bahnradspezialistin Charlotte Becker für den Wettkampf. Lichtenberg flog vorzeitig zurück nach Deutschland. "Das hängt mir heute noch nach", sagt sie.

Corinna Lechner aus Fürstenfeldbruck rechnet sich bei der deutschen Meisterschaft einiges aus, zumal sie die Strecke in Thüringen gut kennt. (Foto: imago/Photo2000)

Dass sie nun bei den nationalen Meisterschaften nicht in ihrer besten Verfassung antreten kann, empfindet Lichtenberg nicht als Nachteil. "Die Strecke am Sonntag ist topfeben, der Kurs in Rio sehr bergig. Da Rückschlüsse zu ziehen, erscheint mir als nicht sinnvoll", erklärt Lichtenberg. Wie viel ihr die Nominierung bedeuten würde, zeigt auch, dass sie die Strecke in Brasilien bereits persönlich inspiziert hat. Der Schlussanstieg ist 8,5 Kilometer lang, auf den letzten 4,5 Kilometern beträgt die Steigung 13 Prozent. "Es gibt nicht viele, die dafür in Frage kommen, ein solches Rennen zu gewinnen", sagt Lichtenberg und fügt an: "Ich mache mir durchaus Hoffnungen auf eine Medaille."

Für Corinna Lechner kommt Rio dagegen zu früh. Sie selbst sieht sich derzeit im erweiterten Kreis des Nationalteams. 2020, wenn die Olympischen Sommerspiele in Tokio stattfinden, will auch sie mit dabei sein. "Das ist mein Ziel", sagt Lechner. Bis dahin wird sie sich an die Kratzer vom Sturz in Belgien sicher nicht einmal mehr erinnern.

© SZ vom 24.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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