Leichtathletik:Zeit der Rosinen

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Eine Olympia-Athletin unter Freizeitsportlern: 2016 lief Fabienne Kohlmann noch in Rio de Janeiro, nun bereitet sie sich auf einen Jedermann-Zehnkampf vor.

Von Andreas Liebmann

Sie federt. Eigentlich machen alle dasselbe an diesem sonnigen Abend im Münchner Dantestadion; was man eben macht, wenn man versucht, Stabhochsprung zu lernen. Sie probieren, sich an den langen Stab zu gewöhnen, sich einen Schritt lang von dessen Spitze tragen zu lassen; sie legen ihn beiseite und testen den Anlauf zur Matte, mit unsicheren Trippelschritten, kraftvoll, wacklig, dynamisch, hölzern - die ganze Palette, die man erwarten darf bei einem Jedermann-Zehnkampftraining. Einige haben offenbar schon etwas Erfahrung, andere klammern sich zum ersten Mal in ihrem Leben an einen Stab. Doch nur eine hat diesen auffallend leichtfüßigen, federnden Laufstil.

Am ersten Tag, erzählt Fabienne Kohlmann später lachend, habe sie einer der Trainer gefragt, ob sie zufällig schon mal etwas mit Leichtathletik gemacht habe. Offensichtlich kannte er sie nicht. "Och", hat sie geantwortet, "schon ein bisschen. 800 Meter und so." Inzwischen wissen alle, dass sie an Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen teilgenommen hat.

Beim Warmlaufen um das alte Stadion fällt Fabienne Kohlmann, lange blonde Haare, rosa T-Shirt, nicht weiter auf. Sie hält sich ziemlich am Ende jener Gruppe von 15 Frauen und Männern, die sich nach Feierabend zum Üben getroffen haben. Bei den ersten Stabhochsprungversuchen zählt sie nicht zu den Besten, auch für sie ist diese Disziplin neu. Doch sie macht schnelle Fortschritte. Der vierte Versuch - ein gespanntes Gummiband hängt auf knapp zwei Metern Höhe - gelingt ihr gut. Sie jubelt. Und dann kommt die Leistungssportlerin in ihr durch. "Darf ich mal sehen?", fragt sie und blickt - wenn schon ein Fotograf ihretwegen gekommen ist - kritisch auf das Display seiner Kamera. Sie will genau sehen, wie sie soeben gesprungen ist. "Oh Mann", seufzt sie dann: "Der hat sich besser angefühlt, als er aussah."

Da war sie also, die ehrgeizige Läuferin, die viermalige deutsche Meisterin über 800 Meter. Auch das Hürdentraining wird sie später auf diese Weise überprüfen. "Zu hoch", sagt sie nach einem kurzen Blick auf das Display. Vor zwölf Jahren war sie über 400 Meter Hürden mal Jugendeuropameisterin. Die Frage ist: Wieso bereitet sich Fabienne Kohlmann hier auf einen Freizeitwettkampf vor (der Jedermann-Zehnkampf findet am ersten Juli-Wochenende in Garching statt). Und was macht sie eigentlich sonst? Sie ist erst 29 Jahre alt, ihre Karriere, die sie zu mehreren Weltmeisterschaften geführt hat, zu den Olympischen Spielen nach Rio de Janeiro, zu einer Bronzemedaille bei der Universiade 2015 in Gwangju, sie ist noch nicht beendet. Zumindest kann man nichts darüber lesen.

Inzwischen wissen hier alle, wer sie ist: Fabienne Kohlmann beim Hürdentraining mit den Münchner Jedermann-Zehnkämpfern. (Foto: Florian Peljak)

Die Antwort auf die erste Hälfte der Frage fällt Fabienne Kohlmann leicht. Vor einem Jahr habe sie ihren damaligen Freund und heutigen Ehemann zu einem solchen Jedermann-Zehnkampf begleitet, zum Anfeuern und Coachen, das Miteinander und die freundschaftliche Atmosphäre hätten ihr gefallen. Und dann sei sie früher ja selbst oft im Mehrkampf unterwegs gewesen. Der Hochsprung sei "eine alte Liebe", die Wurfdisziplinen gingen eher Richtung Katastrophe ("Das habe ich bis heute nicht gelernt"). Jedenfalls habe ihr der Siebenkampf immer "viel Freude gemacht". Deshalb fühle sie sich gerade wieder "wie 15 oder 16" - und so hat sich Fabienne Kohlmann schon lange nicht mehr gefühlt.

Das führt zur anderen Hälfte der Frage; zu der, über die sie nicht ganz so locker redet, die "mit dem Frust der letzten zwei Jahre" zusammenhängt. Ihr Karriereende? Nein, sagt sie, das habe sie tatsächlich noch nicht verkündet. Sie ist noch nicht bereit dazu, obwohl sie in München mittlerweile berufstätig ist. Sie hat eine Vollzeitstelle in der Personalentwicklung. Sie trainiert noch, manchmal an einem Tag in der Woche, manchmal an fünf Tagen. "Es fühlt sich alles schon sehr viel anders an", stellt sie fest, aber es gab noch keinen offiziellen Schlussstrich. "Es ist ein Prozess." Sie hat ihn noch nicht abgeschlossen.

Ihr Vorrundenlauf in Rio de Janeiro war ihr letzter großer Auftritt. Schon zuvor hatte sie große Probleme mit ihrer Achillessehne, auch danach machte ihr das zu schaffen. "Zwischendurch gab es Lichtblicke", erzählt sie, Ende 2017, Anfang 2018, da habe sie richtig gut durchtrainiert. Die Europameisterschaft in Berlin schien greifbar. Dann kam eine Reizung der Plantarsehne an der Fußsohle dazwischen. "Irgendwann habe ich gedacht, dass ich nur noch eine Ansammlung von Sollbruchstellen bin." Stets beschäftigt mit der Frage, wann ihr wohl "die nächste Sollbruchstelle um die Ohren fliegt". Sie hat noch kein Bedürfnis, ihr Karriereende zu verkünden, aber vor einem Jahr hat sie beschlossen, dass sie irgendetwas ändern wollte.

Noch steckt Fabienne Kohlmann ein wenig fest zwischen ihren zwei Welten. Die gebürtige Unterfränkin lebt seit Jahren in München, wo sie auch trainiert, sie ist aber immer für ihren Heimatverein gestartet, die LG Karlstadt-Gambach-Lohr. Kürzlich war sie mit ihrer alten Münchner Trainingsgruppe in Zinnowitz zu deren Vorbereitungslager; mit Christina Hering, der sie vor einigen Jahren noch in einem rasanten gemeinsamen Rennen zur WM-Qualifikation verholfen hatte und die nun deutsche Meistertitel über 800 Meter sammelt wie andere Schuhe oder Handtaschen; und mit Katharina Trost, zurzeit der jahresschnellsten Deutschen. Sie hatte viel Spaß beim Üben mit ihren jüngeren Wegbegleiterinnen, erzählt sie. Mithalten konnte sie zwar nicht mehr, trotzdem sei sie angefeuert worden. Als die Freundinnen dann harte Tempoläufe machten, übte sie eben Speerwurf. "Die anderen haben das dann auch probiert, da kamen die verrücktesten Techniken heraus."

Fabienne Kohlmann lacht bei dieser Erinnerung. Dann gibt sie nachdenklich zu, dass dieses Trainingslager trotzdem nicht leicht für sie war. Ihre Bestzeit aus dem Jahr 2015, 1:58,34 Minuten, haben die anderen noch nie erreicht. "Natürlich ist da Wehmut dabei", sagt sie. "Aber ich glaube, ich bin jetzt aus dem Gröbsten raus. Vor einem halben Jahr hätte ich sicher noch gesagt, so etwas tue ich mir nicht an."

Fabienne Kohlmann sucht sich heute die schönen Momente heraus, erklärt sie, auch Zinnowitz sei im Nachhinein so ein schöner Moment gewesen. Sie nennt es Rosinenpicken. Mit der 4×400-Meter-Staffel ihres Heimatvereins samt Schwester Corinne ist sie gerade bayerische Meisterin geworden. Wobei sie auch diese Rosine nicht leichtfertig schnappte, sie hatte erst nach Bedenkzeit zugesagt. "Ich hatte keine Lust mehr, bewertet zu werden", erklärt sie, "aber es läuft nun mal die Uhr mit." Sie müsse sich damit auseinandersetzen, bei so etwas gemessen zu werden, ihr "Erwartungsmanagement anpassen". Klingt seltsam für eine Leistungssportlerin.

Der Jedermann-Zehnkampf wird nun ganz sicher eine Rosine, und wer weiß: "Ich glaube fast, ich habe Blut geleckt. Ich spiele schon mit dem Gedanken, im September einen Siebenkampf in meiner Heimat mitzumachen. Wäre doch schade, wenn ich meine reaktivierten Fähigkeiten gleich wieder verfallen lasse."

Bei der EM in Berlin war sie im vergangenen Jahr trotzdem, sie wurde geehrt: als Europameisterin in der Staffel, nachträglich. Acht Jahre nach dem zweiten Rang in Barcelona waren die russischen Siegerinnen des Dopings überführt worden. "Eine Schweinerei", sagt sie. Die Ehrung hat ihr trotzdem gefallen. Auch das gehört zu der Karriere, die sie noch nicht beenden will.

Und sonst? Ein Rückblick?

"Höhen und Tiefen, alles dabei", sagt Kohlmann. Sie sitzt auf den Betonstufen des Dantestadions und wirkt entspannt. Denkt nach. Lächelt. "Wie ich jetzt bin, bin ich ganz zufrieden mit mir", sagt sie. Und alles, was passiert sei, habe ja dazu beigetragen, sie zu formen. "Es war schon gut!"

© SZ vom 22.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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