Leichtathletik:Wettrennen um die Tickets

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Münchens Athleten kämpfen um die Qualifikation für die EM in Berlin. Ein Nachwuchs-Quartett der LG Stadtwerke hat sich bereits WM- und EM-Plätze gesichert. Anderen läuft die Zeit davon.

Von Andreas Liebmann, München

Letztlich ist es so ähnlich wie mit Hausaufgaben. Erledigt man sie gleich, ist alles gut; macht man sie auf den letzten Drücker, steigt der Druck. Man sieht das zurzeit bei den Hochspringern der LG Stadtwerke München: Lucas Mihota hat bereits Anfang Mai 2,16 Meter übersprungen, damit hakte der 19-Jährige gleich zum Saisonstart die Norm für die U-20-Weltmeisterschaft im finnischen Tampere ab. Sein älterer Trainingskollege Tobias Potye hat es natürlich auf die Europameisterschaft in Berlin (7. bis 12. August) abgesehen, auch er hat die geforderte Höhe von 2,26 Meter bereits Ende Mai erfüllt.

Man könnte danach beruhigt zurück ins Training gehen. Wie es gerade die Münchner 800-Meter-Läuferin Christina Hering macht: Sie absolviert zurzeit ein Höhentrainingslager in St. Moritz in der Schweiz, mit dem guten Gefühl, welches ihr ein Wettkampf vor knapp zwei Wochen in Tübingen verlieh. Dort unterbot sie die EM-Norm für Berlin, in 2:00,48 Minuten hängte sie die Britin Adelle Tracey (2:00,91) und die Isländerin Aníta Hinriksdóttir (2:01,05) ab. Es war die drittbeste europäische Leistung dieses Jahres für die 23-Jährige. Vor einigen Tagen gewann sie noch ein Meeting in Madrid, demnächst wird sie in Luzern antreten, und dann stehen schon die deutschen Meisterschaften bevor.

Als sie die Norm erfüllt hatte, sprach Hering von einer "großen Erleichterung", und das darf man der Olympiateilnehmerin von 2016 uneingeschränkt glauben. Denn der Vergleich mit den Hausaufgaben hinkt ja. Man muss sich nicht nur hinsetzen und machen, man muss im richtigen Moment topfit sein. Hering hat erst im vergangenen Jahr erlebt, wie hart es werden kann, wenn die Norm nicht rechtzeitig fällt. Damals ging es um die Weltmeisterschaft in London - und um eine Zeit, von der die Studentin zunächst annehmen durfte, dass sie diese nach der Olympiasaison quasi im Vorbeilaufen unterbieten würde. Doch dann verstrich Rennen um Rennen. Die Lockerheit verschwand. Irgendwann war die Frist abgelaufen. Erst danach glückte Hering ein passender Lauf, und sie hatte Glück, dass sie noch nachnominiert wurde.

Der ständige Kampf um solche Höhen- oder Zeitvorgaben mag für Außenstehende abstrakt wirken, zumal mit einer Norm ja noch nichts erreicht ist. Doch ohne sie kann man eben gar nichts erreichen. Und so hecheln viele Athleten oft mit wachsender Verzweiflung Zielvorgaben hinterher.

Der Nachwuchs der LG Stadtwerke hat so gesehen schon eine Menge erreicht, auch wenn die internationalen Großereignisse des Jahres erst bevorstehen. Vor einer Woche hat der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) den Sprinter Fabian Olbert für die U-18-Europameisterschaft im ungarischen Györ (5. bis 8. Juli) nominiert, als einzigen Bayer neben der Ingolstädter 400-Meter-Läuferin Mona Mayer. Und an diesem Mittwoch erhielten Kugelstoßerin Selina Dantzler, Hochspringer Mihota und 400-Meter-Läufer Arne Leppelsack ihre Tickets für die U-20-WM im finnischen Tampere (10. bis 15. Juli). Allerdings hatte sich der DLV für sie noch eine besondere Steigerung des Drucks ausgedacht. Zusätzlich zur geforderten Qualifikationsnorm mussten sie in einem Ausscheidungswettkampf einen den beiden vorderen Plätze belegen, Olbert in Schweinfurt, der Rest bei der Juniorengala in Mannheim. Olberts Nerven hielten, er wurde Zweiter über 100 Meter. Seine 10,69 Sekunden machten ihn mit gerade mal 17 Jahren zum aktuell zweitschnellsten Sprinter Bayerns und zum schnellsten Deutschen seiner Altersklasse. "Es ist schon beeindruckend, was er da abzieht", staunt LG-Geschäftsführer Christian Gadenne. Das Kontrastprogramm bot die Münchner Kugelstoßerin Cassandra Bailey: Trotz mehrmals abgelieferter Norm verpasste sie den in Schweinfurt geforderten zweiten Platz - um einen Zentimeter. Sie ist nun nicht für Györ nominiert.

Die U-18-Weltmeisterin Selina Dantzler machte es beim Kugelstoßen in Mannheim weniger spannend: Mit 15,97 Meter war sie als Zweite hinter einer Neuseeländerin beste Deutsche, die geforderte Weite für die EM von 15,50 hatte sie vor Wochen schon um mehr als einen Meter überboten. "Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass sie sofort wieder vorn dabei ist", betont Gadenne - schließlich hat Dantzler altersbedingt gerade auf eine ein Kilo schwerere Kugel gewechselt. Auch für den Hochspringer Mihota war der Sieg in Mannheim (mit einer Höhe von 2,10 Meter) alles andere als ein Selbstläufer. Er hatte zuletzt einen verletzten Sprungfuß, bestritt sogar Wettkämpfe, in denen er mit dem anderen Bein absprang. Nun taste er sich gerade wieder an seine Form heran. Der Dritte im Bunde, Arne Leppelsack, hat sich einen Platz für die 4×400-Meter-Staffel ergattert.

Während das Nachwuchsquartett feiert und bei den Erwachsenen auch Potye und Hering guter Dinge sind, müssen andere allmählich zittern. Katharina Trost fehlen über 1500 Meter knapp zwei Sekunden zur Norm für Berlin. Der 5000-Meter-Läufer Clemens Bleistein hat mangels geeigneter Rennen gar aufgegeben, berichtet Gadenne: "Er wird wahrscheinlich keinen Anlauf mehr nehmen." Zur DLV-Norm fehlten ihm sieben Zehntelsekunden, dafür habe er die etwas langsamere europäische Norm geschafft. "Der Bundestrainer hofft, dass das reicht." 400-Meter-Läufer Johannes Trefz war Anfang Juni in Regensburg der schnellste Saisonstart seiner Laufbahn geglückt, 26 Hundertstel über der geforderten Zeit für die EM-Teilnahme - doch seitdem wurde er langsamer. Gut drei Wochen hat er noch Zeit, die Norm zu erfüllen.

Schlecht sieht es für den 400-Meter-Hürdenläufer Tobias Giehl aus. Nach einem Jahr Pause und zwei Operationen an der Hüfte fehlt ihm noch mehr als eine Sekunde zur für Berlin geforderten Marke (51:00). Kaum einer weiß so gut wie er, wie das so ist mit den Normen. Vor den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro hatte er seine persönliche Bestzeit geschafft, 49,48 Sekunden. Acht Hundertstel zu langsam.

© SZ vom 28.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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