Leichtathletik:Weit weg von Palmen

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Bei Mama statt in Miami: Kugelstoßerin Selina Dantzler. (Foto: BEAUTIFUL SPORTS/imago)

Die ehemalige Kugelstoß-Nachwuchsweltmeisterin Selina Dantzler hatte auf ihre erste gute Saison in den USA gehofft. Nun ist sie wieder in München.

Von Andreas Liebmann, München

Ob sie die bösen Viren wohl allesamt erschießen wollen? Standrechtlich? Aus dem Hinterhalt? Oder zwölf Uhr mittags, breitbeinig vor den Saloons?

Gleich als die Corona-Pandemie losging, oder besser: als sie sie endlich wahrnahmen, begannen jedenfalls erstaunlich viele Menschen in den USA Schlange zu stehen - nicht etwa vor Supermärkten oder gar vor Regalen mit Toilettenpapier, sondern vor Waffengeschäften. Bis heute ist das so, und das ist einer dieser Punkte, die Selina Dantzler nun sagen lassen, dass sie doch gerade sehr froh sei, daheim zu sein.

Geplant war das nicht. Ihr altes Zimmer in München, erzählt die Leichtathletin, sei in ihrer Abwesenheit als Allzweckraum benutzt worden; als sie wiederkam, musste es erst freigeräumt werden. Eigentlich wäre die U-18-Weltmeisterin im Kugelstoßen von 2017 gerade in Florida, wo sie studiert. Sie hatte an der University of Miami ein Sportstipendium bekommen, von dort postet sie regelmäßig Bilder vom Strand und von Palmen. Nicht, dass es dort ein andauernder Urlaub wäre, natürlich hätte sie auch Fotos aus dem Kraftraum, vom Campus oder Wettkämpfen hochladen können, aber die anderen Motive machen deutlich mehr her. Und schon an den Bildern kann man klar erkennen, dass sich die junge Münchnerin äußerst wohlfühlt in Miami. "Eine tolle Erfahrung" sei das, erzählt sie.

Mitte März änderte sich alles. Ihre Mutter war für ein paar Wochen zu ihr geflogen, um gemeinsam den 20. Geburtstag zu feiern, doch just um diesen Geburtstag herum spitzte sich die Lage in den USA bedrohlich zu. Erste Statistiken zur Corona-Krise kamen in Umlauf, erste Flüge wurden gestrichen, ein Lockdown angekündigt. Kurzentschlossen packten Mutter und Tochter die Koffer und buchten Flüge gen München. "In dieser Situation wollte ich nicht alleine in Amerika sein, sondern daheim bei meiner Familie", erklärt Selina Dantzler. Auch wenn das bedeutete, dass sie sich gemeinsam mit der Mutter nach der Rückkehr erst einmal für zwei Wochen in häusliche Quarantäne begeben musste, "weil wir ja doch an zwei, drei Flughäfen waren"; dass sie ihren Vater erst danach und die Oma noch gar nicht wiedersehen konnte; und dass sie hier natürlich weder Strand noch Palmen noch Trainingsmöglichkeiten hat, wie alle anderen nur daheim sitzt oder eben zum Laufen nach draußen geht.

Von New York, wo ja zuerst das große Chaos ausbrach, ist Miami weit weg. Es sei dort auch nach ihrer Abreise zunächst gar nicht so schlimm gewesen, erzählt sie. Panikkäufe habe es gegeben, ja, "die Läden waren leergekauft, die Restaurants geschlossen". Aber sie habe auch ein paar Freunde in New York, die hätten sich mit ihren Vorräten doch regelrecht zu Hause eingebunkert. Und dann eben diese Waffenkäufe, über die sie sich "sehr erschrocken" habe, und die Nachrichten über Leute, die plötzlich begannen, sich "um ein Chicken-Sandwich zu prügeln".

Anfangs, gesteht sie, habe sie die ganze Entwicklung gar nicht so ernst genommen, ja sogar völlig unterschätzt. Später lief es wie bei vielen anderen auch: Dass sie zunächst jede Information zum Virus aufnahm, irgendwann aber "nur noch die Headlines" las, um nicht alles an sich heranzulassen von dieser Situation, die ihr doch Angst mache. "Ich bin schon auch sehr froh, jetzt hier zu sein und mich auf eine Regierung verlassen zu können".

In Miami wäre sie ohne den raschen Entschluss zur Heimreise nun ganz allein gewesen. Ihre vier Mitbewohnerinnen sind inzwischen auch zu ihren Familien gezogen.

So wohl sie sich sonst auch fühlt in ihrem Team und ihrer neuen zweiten Heimat, rein sportlich stand Selina Dantzlers Abenteuer bislang unter keinem guten Stern. Vor einem Jahr musste ihr ein Schleimbeutel am rechten Knie entfernt werden. Vorausgegangen war eine Leidenszeit voller Rätselraten und aufkommender Zweifel: Denn auch der Oberschenkel war zwischendurch entzündet, die Hand, dann das linke Knie. Erst spät, nach allerhand anderen Vermutungen - Mückenstich, Spinnenbiss - wurde ein Keim als Übeltäter entdeckt. "Der Eingriff war nicht das Problem, aber es hat 20 Tests gebraucht, bis die Ursache gefunden wurde", erinnert sich Dantzler. "Vier Monate lang musste ich Antibiotika nehmen, ich hatte eine Mandelentzündung, irgendwann war ich nur noch schlapp, der ganze Körper war geschwächt." Ihre erste Freiluftsaison in den USA war damit hinfällig, und als sie nach Semesterende nach Deutschland zurückkehrte, war sie immer noch kaum wettkampftauglich. Dass Selina Dantzler dann Ende Juli noch deutsche U-20-Meisterin im Kugelstoßen wurde, mit 15,75 Metern, war ein erstaunliches Happy-End.

In dieser Saison sollte alles anders werden, besser. Die Hallensaison lief ordentlich, "noch nichts, worüber ich gejubelt hätte", sagt Selina Dantzler, aber sowohl mit der Kugel als auch mit dem Diskus ging es in die richtige Richtung. Und nun hätte die Freiluftrunde am College folgen sollen. Ihre Bestleistungen wollte sie angreifen, 16,75 Meter im Kugelstoßen, 52,03 Meter im Diskuswurf. Sich vielleicht sogar für die Nationals qualifizieren, auf jeden Fall aber für die deutschen Meisterschaften, die ursprünglich mal für Anfang Juni vorgesehen waren. "Mein Trainer in Miami war sehr stolz auf mich, dass ich es überhaupt zurückgeschafft habe", sagt sie, "und ich war froh, dass ich zwei, drei Monate durchtrainieren konnte." Ihr wichtigstes Vorhaben war es, gesund durch dieses Jahr zu kommen. "Und jetzt sieht es so aus, als ob die ganze Sommersaison gelaufen ist."

Das Semester in den USA läuft noch. Die Uni hat ihren gesamten Betrieb auf Online umgestellt. Wenn Selina Dantzler nun also nicht gerade mit Gewichten, mit beschwertem Rucksack oder vollen Wasserflaschen Workouts in der Wohnung macht, sitzt sie in Vorlesungen, die eigentlich 8000 Kilometer entfernt wären. Ihre Kurse dort hat sie meist vormittags, das ist nachmittags deutscher Zeit. Glück gehabt. Nur für eine Prüfung musste sie mal von 23 Uhr bis ein Uhr morgens ran. Wie es aussieht, wird sie noch bis Mitte August hierbleiben. Zurückkehren will sie auf jeden Fall, zu Strand, Palmen und ihrem "supernetten Team". Allerspätestens, wenn auch die letzten Viren erschossen sind.

© SZ vom 04.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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