Leichtathletik:Mekka menschenleer

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Vaterstetten setzt nach sechsjähriger Pause die Tradition als Austragungsort deutscher Mehrkampf­meisterschaften fort - unter schwierigen Umständen.

Von Andreas Liebmann

Wer sie einmal durch ein Elektronenmikroskop gesehen hat, achtbeinige, augenlose Wesen mit Kneifzangen, der weiß: Einer Hausstaubmilbe geht man besser aus dem Weg. Doch es gibt heute ungefährlichere Wege als den berühmten Gang ins staubige Archiv, um etwa dem Zehnkämpfer Christian Schenk auf die Spur zu kommen. Nur wenige Mausklicks ist jene Schwarz-Weiß-Welt noch entfernt, in der Zeitungsseiten aus erstaunlich vielen Buchstaben und erstaunlich wenigen Fotos bestanden, und auf einer solchen im Sportteil der SZ vom 22. Juli 1993 findet man ganz unten links den Beweis: Er war tatsächlich da. Der Olympiasieger Christian Schenk. Live in Vaterstetten.

Mit einigen Jahren Abstand mag das gar nicht mal erstaunlich klingen, denn der TSV Vaterstetten ließ als Ausrichter derart viele weitere deutsche Mehrkampfmeisterschaften folgen, dass er sich ganz gerne den Titel "Mekka der Mehrkämpfer" gefallen ließ: 1994, 1996, 1998, 2001, 2004, 2007, 2011, 2014. Schenks Auftritt vor den Toren Münchens bei der Premiere im Sommer 1993 blieb dennoch eine große Sache, und im Nachhinein ragt er ebenso wie der des zweitplatzierten Weltmeisters Torsten Voss (8074 Punkte) oder der Besuch der Weltmeisterin Sabine Braun 1996 noch ein wenig mehr aus der Historie heraus - denn nicht immer haben die besten deutschen Mehrkämpfer tatsächlich an ihren nationalen Meisterschaften teilgenommen.

1993 bei der WM in Stuttgart stellt der Zehnkampf-Olympiasieger Christian Schenk seine Karriere-Bestmarke auf (oben) – die Qualifikation hatte ihm einige Wochen zuvor sein Auftritt in Vaterstetten gebracht. (Foto: imago/Sven Simon)

In fünf Wochen soll nun erneut eine deutsche Mehrkampfmeisterschaft in Vaterstetten stattfinden, und es versteht sich von selbst, dass sie anders wird als alles, was es bisher gab. Das liegt zu allererst an diesem neuen Parasiten, der im Elektronenmikroskop so viel harmloser wirkt als eine Milbe, und der doch die ganze Welt beherrscht: dem Coronavirus. Das hat nämlich gleich mehrere unmittelbare Auswirkungen auf die Veranstaltung: Zum einen, dass die drei Tage vom Protokoll eines strikten Hygienekonzepts geprägt sein werden. Und zum anderen, dass diesmal tatsächlich die besten deutschen Mehrkämpfer erwartet werden - weil es zurzeit gar keine anderen Zehn- oder Siebenkämpfe gibt, bei denen sie starten könnten. Auch Niklas Kaul, der Überraschungsweltmeister von 2019, hatte sich bereits angekündigt - bis er seine Saison vor einigen Tagen überraschend wegen einer Operation am verletzten Ellenbogen stornierte. Und noch etwas wird anders sein: Der TSV Vaterstetten hat sich vor Kurzem als Ausrichter aus der Veranstaltung zurückgezogen.

Es muss ein aufregender Wettkampf gewesen sein 1993. "Ich bin hier um zwölf, 13 Jahre gealtert", schätzte Schenks Trainer Axel Schaper damals. "Ich habe drei Kilo verloren." Ob er nach Schenk noch einmal einen Zehnkämpfer betreuen werde? "Nein. Danach gibt es nur noch Skat, Surfen, Skifahren." Mit 8109 Punkten holte sich Schenk den Sieg. Er hatte da bereits eine ganze Saison hinter sich, in der er keinen einzigen Zehnkampf zu Ende gebracht hatte, unter anderem wegen einer Verletzung des rechten Ellenbogens, die ihn in den Wurfdisziplinen so behindert hatte, wie es nun offenbar bei Kaul der Fall war; und nach Vaterstetten war er dann mit einer Muskelverletzung angereist.

Nun ist die Historie dieser Veranstaltung lang genug, dass man schon mal etwas durcheinander bringen kann. So steht auf der Homepage des TSV seit Jahren, der spätere Olympiasieger Schenk habe in diesem Stadion 1993 seine Olympianorm geschafft. Tatsächlich hatte er sein Olympiagold natürlich schon 1988 in Seoul gewonnen, wo er im Hochsprung in Straddle-Technik 2,27 Meter überwand - bis heute unerreicht und hart an der Grenze zur Unverschämtheit gegenüber vielen aktuellen Hochsprung-Spezialisten. In Vaterstetten empfahl er sich vielmehr für die Weltmeisterschaft in Stuttgart, die er einige Wochen später als undankbarer Vierter abschloss, allerdings mit 8500 Punkten, seinem Karriere-Bestwert. Und Paul Meier, Olympia-Sechster von Barcelona, riss 1998 im Vaterstettener Stadion die Achillessehne, es war der Höhepunkt seiner langen Verletzungsserie vor dem Karriereende.

Wieso sich der TSV kurzfristig aus dieser Tradition zurückgezogen hat? Die Verantwortlichen hätten Bedenken bekommen, erklärt Georg Kast. Er ist Referent des neuen Vaterstettener Bürgermeisters Leonhard Spitzauer (CSU), und er beeilt sich nachzuschieben: "Ich kann den TSV da verstehen." Gerade erst habe der "Riesenverein" mit knapp 4000 Mitgliedern in Andreas Sachs einen neuen Vorsitzenden bekommen, selbst dessen Wahl war von den Corona-Beschränkungen gezeichnet; der Leichtathletik-Abteilungsleiter ist ebenfalls noch nicht lange im Amt. Die Verantwortlichen müssten sich erst einmal zurechtfinden, erklärt Kast, eine solche Großveranstaltung unter den aktuellen Auflagen macht man nicht einfach mal nebenbei. Vor etwa zwei Wochen jedenfalls habe der Verein seinen Rückzug mitgeteilt, bald darauf sei der Bayerische Leichtathletik-Verband (BLV) auf die Gemeinde zugekommen mit der Bitte, das Vaterstettener Stadion trotzdem als Austragungsort nutzen zu dürfen, und nun organisieren sich der BLV und federführend der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) eben selbst ihre Veranstaltung. "Das ist eine ungewöhnliche Konstellation", weiß der Münchner BLV-Präsident Gerhard Neubauer, doch was sei in Corona-Zeiten schon normal. Es werde jedenfalls ein exponierter Wettbewerb. Das Fernsehen habe zweieinhalb bis drei Stunden Übertragung angekündigt, und die gesamte Veranstaltung von 21. bis 23. August werde im Livestream zu sehen sein.

In Vaterstetten riss dem Olympia-Sechsten Paul Meier (links) 1998 die Achillessehne. (Foto: Peter Schatz/Bongarts/Getty Images)

"Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass die Veranstaltung überhaupt stattfinden kann", betont DLV-Mediendirektor Peter Schmitt am Mittwoch. Man tue das, um den Athleten Einsätze zu verschaffen, gleiches gelte für die deutschen Meisterschaften in Braunschweig am 8./9. August und ein Meeting in Leverkusen eine Woche später, alles mit hohem Medieninteresse. Gerade erst sei ihm mitgeteilt worden, dass das Ebersberger Landratsamt das Hygienekonzept geprüft und befürwortet hat. Die Zeiten seien nicht leicht für Vereine, sagt er zum Ausstieg des TSV, "aber wir sind zuversichtlich, dass wir das hinbekommen. Vaterstetten ist ja mehrkampfgeübt, und wir sind froh, dass wir das hier veranstalten dürfen." Es gebe gar nicht so viele mehrkampftaugliche Wettkampfstätten.

Im Vaterstettener Rathaus lobt Referent Kast, die Verbände seien "mit viel Manpower und einem schlüssigen Konzept" auf sie zugekommen, deshalb habe man "ein gutes Gefühl" bei dieser Veranstaltung. "Wofür haben wir denn sonst unsere Sportstätten?", fragt er noch. Der Ort wird also mal wieder das Mekka des Mehrkampfs sein, auch wenn die Bürger dieses Mal gar nicht viel davon mitbekommen werden. Es sind ja keine Zuschauer zugelassen.

Ehe das Stadion Anfang der Achtziger errichtet wurde, war den Initiatoren Gigantomanie vorgeworfen worden. Sie ließen sich davon nicht beirren. Einer von ihnen war Günther Koch, Ehrenmitglied, ehemaliger Vorsitzender, federführend an der Planung und an den späteren Großveranstaltungen beteiligt. Mehr als 6000 Zuschauer sollen die Premiere 1993 gesehen haben. Koch würde sich sicherlich freuen, dass die Tradition nach sechs Jahren Pause nun fortgeführt wird. Die etwas ungewöhnlichen Begleiterscheinungen hat er nicht mehr mitbekommen. Er ist Anfang dieses Jahres im Alter von 85 Jahren gestorben.

© SZ vom 16.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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