Leichtathletik:Im Gleichschritt aus dem Rückraum

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Seit Kindertagen kennen sich Johannes Trefz und Tobias Giehl, am Wochenende wollen beide deutsche Meister werden: Trefz über 400 Meter, Giehl über 400 Meter Hürden. Für ihren Kampf um Hundertstelsekunden nehmen die beiden Münchner Leichtathleten einiges auf sich

Von Andreas Liebmann, München

Der winzige Kolibri schlägt seine Flügel so schnell, dass es summt; etwa 90 Mal in der Sekunde. Mit seinem langen Schnabel gelingt es ihm vermutlich auch mühelos, sich in den Hintern zu beißen.

Wenn Johannes Trefz rennt, summt da gar nichts. Er ist zwei Meter groß, entsprechend lang sind seine Beine. Trotzdem ist er schnell. Kürzlich in Regensburg hat er eine neue persönliche Bestzeit aufgestellt, 46,02 Sekunden über 400 Meter. Alle hätten ihm dazu gratuliert, erzählt er, nur er selbst habe sich geärgert. Zwei Hundertstelsekunden schneller, nur zwei dieser winzigen Kolibri-Flügelschläge, und seine Welt sähe völlig anders aus. Er habe sich sogar gewaltig in den Hintern gebissen, erzählt Trefz - ganz ohne langen Schnabel.

An diesem Wochenende finden in Kassel die deutschen Leichtathletik-Meisterschaften statt, und Trefz, 24, hat zwei klare Ziele: Erstens will er den Titel holen, zweitens "45 Komma irgendwas" laufen. Denn damit hätte er die Qualifikationsnorm für die Europameisterschaften in Amsterdam (6. bis 10. Juli) erreicht. Alexander Gladitz, 22, aus Hannover hat das als bislang einziger Deutscher schon geschafft. Doch Trefz traut sich zu, dieses Mal der Schnellere zu sein. Und die EM wäre natürlich nur ein erster Schritt für ihn, denn dort, in einem Klassefeld, würde Trefz dann auch versuchen, die Olympia-Norm zu packen. 45,40 Sekunden, dazu fehlen noch ein paar Kolibri-Flügelschläge mehr. "Wenn alles zusammenpasst, ist es möglich", glaubt Trefz. Er beschäftige sich aber noch gar nicht mit Rio, sagt er. Erst die 45 schaffen, dann die EM, Schritt für Schritt: "Seit vier Jahren arbeiten wir auf Olympia hin, es würde einen erdrücken, wenn wir dauernd nur daran denken würden." Während Trefz nun etwas hektisch auf einem Stück Semmel herumkaut - er habe einen dichten Zeitplan, entschuldigt er sich -, ergänzt neben ihm Tobias Giehl, sein Trainingspartner bei der LG Stadtwerke München: "Diese 45 Sekunden könnten für ihn wie ein Schalter sein, den man umlegt. Es ist vieles Kopfsache."

Giehl ist 400-Meter-Hürdenläufer, zurzeit der schnellste in Deutschland. Auch er strebt am Wochenende nach dem Titel. Die EM-Norm von unter 50 Sekunden hat er schon Ende Mai in Jena geschafft (49,93). Sein nächstes Ziel ist also Rio, auch ihm fehlen dafür noch knapp sechs Zehntel. Giehl wirkt entspannter als der neben ihm sitzende Trefz, doch das hat noch andere Gründe als die geschaffte EM-Norm. Trefz war am Abend zuvor noch in Luzern, um mit der deutschen 4×400-Meter-Staffel eine gute Zeit hinzubekommen, auch das mit dem Ziel Rio de Janeiro. Die Zeit wurde mäßig, nicht alle waren fit. Einen von acht freien Plätzen für Olympia will sich das deutsche Quartett schnappen, die zwei EM-Läufe in Amsterdam werden dazu vermutlich die einzig verbleibenden Gelegenheiten bieten. "Mit der Staffel ist es einfacher, zu Olympia zu kommen", glaubt Trefz. Jedenfalls sei er gegen ein Uhr nachts erst ins Bett gekommen, am nächsten Morgen zum Flugplatz, heim, gleich zur Physiotherapie und nun zu diesem Gespräch hier im Olympiapark. Und gleich im Anschluss beginnt das Training, daher schlingt er nun die mitgebrachten Semmeln herunter. "Klappt aber alles prima", sagt er grinsend.

Johannes Trefz will deutscher Meister werden. (Foto: imago/Chai v.d. Laage)

Giehl hatte diesen Stress nicht. Er wirkt aber auch deshalb so entspannt, weil er sein Sportlerleben gerade sehr bewusst genießt. Er ist fast wieder so schnell wie 2012, seinem bislang besten Jahr, und vor allem: Erstmals seit Jahren läuft er schmerzfrei. Drei Mal war der ehemalige U-20-Europameister Zweiter bei deutschen Meisterschaften, vor einem Jahr hatte er seine Teilnahme absagen müssen. Jahrelang plagten ihn Ödeme am Fuß, ein verschleppter Faserriss im Oberschenkel kam dazu, 2015 musste er die Saison vorzeitig beenden. Er habe sich danach noch einmal komplett untersuchen lassen, erzählt er, habe ausgesetzt, viel Reha gemacht, Weisheitszähne entfernen lassen, die in seinem Körper offenbar über den Kiefer und die Wirbelsäule eine Kettenreaktion ausgelöst hatten. Nun ist er endlich wieder da, wo er sein will. "Ich genieße jedes Rennen", sagt er, "es ist ein völlig anderes Laufgefühl."

Es ist schon ulkig, dass die beiden hier zusammensitzen, Trefz als Biologiestudent, Giehl studiert Umweltingenieurswesen. Seit Kindertagen kennen sie sich. Trefz, der fast ein Jahr Jüngere, hat beim TSV Weilheim mit der Leichtathletik begonnen. "Ich war dann irgendwann der einzige, der das wirklich leistungsmäßig gemacht hat", erzählt er. Deshalb sei er zur LG Würm Athletik gewechselt, kam in die gleiche Trainingsgruppe wie Tobias Giehl, dessen Eltern dort noch immer aktiv sind. Die LG Würm streckte sich, sie sammelte Sponsoren, sie tat alles, was nur möglich war für ihre drei Zugpferde: Giehl, Trefz und Sebastian Barth, deutscher U-23-Meister über 110 Meter Hürden. "Die LG Würm hat viel investiert, aber es war klar, dass das irgendwann an finanzielle Grenzen stoßen würde", sagt Tobias Giehl.

Ende 2013 wechselten alle drei im Paket zur LG Stadtwerke, auch ihre Trainer Peter Rabenseifner und Korbinian Mayr nahmen sie mit. "Dadurch hat sich für uns gar nicht viel geändert", sagt Giehl. Eigentlich hat er Johannes Trefz noch früher kennengelernt, als er für Gilching Handball spielte und Trefz für Weilheim. "Ein paar Mal haben wir gegeneinander gespielt, beide im Rückraum", erinnert sich Giehl, der 1,93 Meter groß ist. "Ich weiß nur noch, dass da so ein großer Blonder war, der bei denen alle Dinger reingemacht hat." Trefz grinst: "Genauso ging es mir auch."

Tobias Giehl kennt seinen Konkurrenten aus gemeinsamen Zeiten als Handballer. (Foto: Claus Schunk)

Beide haben sich dann der Leichtathletik zugewandt und sich dort gemeinsam an die nationale Spitze gekämpft, genau wie Hürdensprinter Sebastian Barth, der allerdings eine noch viel längere Verletzungsgeschichte hat als Tobias Giehl. Ständige Probleme mit den Muskeln, zuletzt kamen auch noch die Adduktoren dazu. Er hat seine Saison vorzeitig beendet, in Kassel ist er nicht dabei. "Bitter", finden seine Freunde.

Im Hintergrund wird gerade ein EM-Fußballspiel übertragen, zwei Haufen Jungmillionäre stehen dort auf dem Platz. Trefz erzählt, wie er sich 2014 bei einem einzigen Rennen verzockt habe, wie er deshalb aus der Sportförderung geflogen sei. "Das war schon happig, wegen eines einzigen Fehlers!" Inzwischen sei er wieder dabei, Giehl nach seiner langen Verletzungsphase allerdings nicht. Zwei Trainingslager in Südafrika, je eines in Portugal und in Italien hat Giehl zuletzt mitgemacht, die er bislang alle "aus eigener Tasche gezahlt" hat. Vom Deutschen Leichtathletik-Verband sei noch nichts gekommen, nur von der LG Stadtwerke. "Das ist schon wichtig, hier hat man wenigstens die Sicherheit, dass man etwas Geld bekommt", sagt er. Auch seine Eltern unterstützten ihn. "Das ist ziemlich traurig", findet Johannes Trefz, "dass sich nicht mal der beste Deutsche, der international startet, sicher sein kann, dass er gefördert wird."

Warum sie sich das dann antun, diesen harten Kampf um Hundertstel? Beide blicken einander an. "Es ist ein gutes Gefühl, sich auszureizen, zu sehen, was man schaffen kann", erklärt Trefz, "auch mit dem Team, den Trainern, die sich ja auch alle extrem reinhängen." Giehl sieht es ähnlich. Noch 2015 sei das alles weit weg gewesen, erinnert er sich, fast nicht vorstellbar, doch nun habe er wieder Chancen auf Olympia. Wie 2012: Damals habe er sich nicht getraut, schon zu Beginn eines Rennens alles zu riskieren, diesen Fehler wolle er sich kein zweites Mal vorwerfen müssen, das hat er sich fest vorgenommen. Seit die Schmerzen weg sind, spüre er wieder, was ihm dieser Sport gibt: "Zu sehen, wie gut ich sein kann, welche Bewegungen möglich sind. Zu wissen, dass ich die Norm schaffen kann." Denn natürlich ist da dieser Traum von Olympia. "Sonst bräuchte man das nicht machen", findet Trefz. Giehl sagt: "Das ist einfach ein Kindheitstraum."

© SZ vom 17.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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