Leichtathletik:Ihre Welt ist eine Kugel

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Selina Dantzler tritt bei der U18-WM in Nairobi an. Dort wird die Münchnerin wohl als Favoritin im Kugelstoßen starten, weil ihre holländische Rivalin nicht antritt. Dantzler hofft auf einen ewigen Titel.

Von Andreas Liebmann

Selina Dantzler blickt nach oben, sie denkt nach. Ob sie wirklich zu den weltbesten Zehn ihres Alters im Diskuswurf zählt? Eben hat sie das leichtfertig dahingesagt, nun überlegt sie. Im Hintergrund plätschert ein Brunnen, die Sonne wird gerade von ein paar vorüberziehenden Wolken verdeckt, aus denen einige dicke Tropfen zu Boden fallen. Ja, doch, sie sei sich fast sicher, sagt sie nun und fügt entschuldigend hinzu: "Mit dem Diskuswurf habe ich mich gar nicht so beschäftigt."

Das klingt erstaunlich. Denn Selina Dantzler hat ja Recht: Ihr Wurf über 50,30 Meter, der ihr Mitte Mai beim Werfercup in Wiesbaden gelang, macht sie zur aktuellen Nummer zehn der Welt in der Altersklasse U18. Beste Deutsche ist sie damit auch. Sogar die U20-EM-Norm hätte sie mit dieser Weite geschafft, doch für sie steht nun ein noch größeres Ereignis an: die U18-Weltmeisterschaft in Nairobi, Kenia. Wo sie mit dem Diskus nicht antreten wird. Nicht schlimm, findet sie: "Ich trainiere das eher nur nebenbei, damit ich Abwechslung habe", sagt sie lapidar, die Nummer zehn der Welt. In Nairobi ist sie nur fürs Kugelstoßen nominiert, ihre Lieblingsdisziplin.

Der Grund ist einfach: Die Veranstalter haben beide Disziplinen auf denselben Tag gelegt. Bei einem Doppelstart hätte die 17-Jährige am kommenden Mittwoch vormittags die Qualifikation mit der Kugel schaffen müssen, am Nachmittag die Diskus-Qualifikation, eine Stunde danach wäre bereits das Finale im Kugelstoßen angestanden. "So kann ich mich auf eins konzentrieren", sagt Dantzler, wenngleich sie fest davon ausgeht, dass die Qualifikation mit der Kugel für sie genau einen Stoß bedeutet. 18,19 Meter ist ihr Bestwert, etwa 16 Meter reichen wohl zum Finaleinzug.

Mit Dynamik und Schnellkraft hat es Selina Dantzler weit gebracht. Zurzeit ist die Schülerin in ihrer Altersklasse die Nummer zwei der Welt. (Foto: Theo Kiefner)

Das letzte Mal, dass sie Probleme mit dieser Weite hatte, ist knapp ein Jahr her. Deutsche Meisterschaft 2016, Mönchengladbach, "mein mit Abstand schlechtester Wettkampf", erinnert sie sich. "Es war eine miese Stimmung, alle haben in diesem Wettkampf total versagt." Vier Wochen zuvor war es in Walldorf ebenfalls nicht gut gelaufen, ein Platzregen sei über ihnen niedergegangen, wie sie ihn noch nie erlebt habe, "literweise Wasser in Sekunden". Sie sei dann irgendwie genervt gewesen. Dantzler kostete das damals die Nominierung für die U18-EM in Tiflis, trotz erfüllter Norm. "Natürlich war ich total traurig, ich hatte das ganze Jahr hart dafür trainiert", sagt sie, "es wäre mein erster internationaler Wettkampf gewesen." Seit jenen Tagen erlebte Dantzler keinen schlechten Wettkampf mehr. Bei jedem ihrer Auftritte in der laufenden Freiluftsaison hat sie die WM-Normen übertroffen - mit beiden Wurfgeräten.

Mit der Diskuskonkurrenz mag sie sich weniger beschäftigt haben, mit der Weltmeisterschaft an sich natürlich schon. Das Wetter in Nairobi hat sie recherchiert, es sei gar nicht so heiß wie angenommen. Ähnlich wie in München, nur mit höherer Luftfeuchtigkeit. Und über die politische Lage hat sie sich informiert. "Einige Verbände nehmen nicht teil, weil es ihnen zu unsicher ist", hat sie gehört. Großbritannien, Österreich, Norwegen, Schweden. Klar verursache das ein mulmiges Gefühl, zurzeit sei es in Nairobi aber ruhig. "Ich verlasse mich schon darauf, dass sich der deutsche Verband genügend Gedanken macht und wir sicher untergebracht sind."

Andreas Bücheler, ihr langjähriger Trainer bei der LG Stadtwerke München, erwartet, dass auch die Niederlande fehlen werden. Diese hätten die U18-WM noch nie besucht. Für Dantzler ist das eine interessante Sache: Denn im Kugelstoßen ist sie die Nummer zwei der Welt, vor einem Trio aus China und der Deutschen Jule Steuer. Die Weltbeste, die die Drei-Kilo-Kugel fast anderthalb Meter weiter stößt als Dantzler, ist Jorinde van Klinken - eine Holländerin. Startet sie nicht, ist Dantzler die Favoritin auf Gold. Bücheler wird mitreisen nach Nairobi, auf eigene Kosten. "Wann hat man schon mal eine Athletin bei einer Weltmeisterschaft?", fragt er.

Sie ist die Nummer zwei der Welt im Kugelstoßen. Die Nummer eins tritt voraussichtlich gar nicht an

Der Trainer vermutet, dass Dantzler mittelfristig doch eher beim Diskuswurf landen könnte. Denn die Schülerin des Isar-Sportgymnasiums hat nicht gerade die typische Statur einer Kugelstoßerin. Mit 1,76 Meter Körpergröße zählt sie zu den Kleinen, obendrein ist sie schlank. Ihre Dynamik und Schnellkraft haben ihr die bisherigen Erfolge beschert. "Vielleicht sind die 60 Meter mit dem Diskus leichter zu erreichen als 18,50 Meter mit der schweren Kugel", überlegt Bücheler deshalb. Doch für seine Schülerin steht das Kugelstoßen an erster Stelle, und Dantzler hofft auch, dass das so bleibt. Wobei ihre Begeisterung natürlich auch in ihren aktuellen Erfolgen begründet liegt. Ihr 50,30-Meter-Diskuswurf in Wiesbaden habe sich schon auch "genial angefühlt", sagt sie selbst.

Einen körperlichen Vorteil kann ihr niemand nehmen: die ungewöhnlich langen Arme. Sie kommt auf eine Spannweite von 1,94 Meter, 18 Zentimeter mehr, als für ihre Größe üblich wären. Vor allem im Diskuswurf ist das ein unschätzbarer Vorteil. Er selbst nehme das oft gar nicht mehr so wahr, sagt Bücheler, aber kürzlich bei den Halleschen Werfertagen hätten ihn Trainerkollegen wieder darauf angesprochen: Wie das denn gehe, dass Dantzlers Arme irgendwie immer länger würden?

Selina Dantzler ist zuversichtlich, dass sie auch mit der Vier-Kilo-Kugel, auf die sie nach dieser Saison wechseln muss, international bestehen kann. "Kugelstoßerinnen werden immer schlanker und weiblicher", beobachtet sie. Sie will an Kraft zulegen, da habe sie "enorme Reserven". Wobei sie natürlich weiß, dass es ganz ohne Masse nicht funktionieren kann. "Wenn du zu leicht bist, drückt dich die Kugel beim Stoß zurück, du kannst deine Armkraft nicht halten." Andererseits hat sie ja auch schon die schwerere Kugel gestoßen. 15,71 Meter, "gut für mein Alter". Sie hat damit die U20-EM-Norm erfüllt. Mit 17.

Dantzlers aktuelle Form ist gut. Beim Nominierungswettkampf in Schapbach vor zwei Wochen absolvierte sie fünf Wettkämpfe in zwei Tagen und stellte mit ihrem letzten Versuch mit der Drei-Kilo-Kugel einen neuen bayerischen und persönlichen Rekord auf. 18,19 Meter. "Ich hätte gar nicht gedacht, dass ich schon so gut drauf bin", sagte sie, "ich hatte davor eine sehr stressige Schulwoche."

Wie es nach dem Abitur für sie weitergehen soll, weiß sie noch nicht. Olympia, klar, das sei "das große Ziel". Aber sonst? Sportfördergruppe? USA-Austausch? Studium? Alles denkbar. "Ich habe mir noch keine Gedanken gemacht", sagt sie. Ein Schuljahr hat sie noch vor sich, aber vor allem diese Weltmeisterschaft. Allein dafür habe sich der Aufwand all die Jahre gelohnt, findet sie, das Zurückstecken bei der Freizeit, bei Freundschaften, die sie dann doch vorwiegend im Sport fand. Sie freue sich, aufgeregt sei sie noch nicht. "Ich bin ein totaler Wettkampftyp", sagt sie, "je mehr Publikum, desto besser."

Selina Dantzler will keine zu großen Töne spucken, das betont sie. Es kann ja auch alles schiefgehen: irgendeine Unpässlichkeit, ein Platzregen. Aber etwas Besonderes gibt es schon noch an dieser WM: Es ist die letzte. Nach Nairobi wird der Weltverband keine U18-WM mehr ausschreiben. Sollte sie dort also tatsächlich Gold holen ... - Selina Dantzler grinst nun breit, ihre braunen Augen leuchten: Dann wäre sie auf ewig eine aktuelle Weltmeisterin.

Bisher erschienen: Hannah Schlickum (8.6.), Cornelia Rips (10.6.), die Geschwister Unz (16.6.), Frederike Fell (20.6.), WNBL-Team der TS Jahn München (22.6.), Theresa Sommerkamp und Elian Preuhs (27.6.), Ann-Kathrin Spöri (29.6.), Tabea Botthof (6.7.). Die Preisverleihung findet am 12. Juli statt.

© SZ vom 08.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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