Leichtathletik:Ferne Ziele

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Hochspringer Tobias Potye wäre gerne in Amsterdam gestartet, und danach natürlich in Rio. Sein anfälliger Körper lässt nun allenfalls Wattenscheid zu

Von Andreas Liebmann, München

Der Fernseher wird laufen. Tobias Potye wird davorsitzen und zuschauen, das hat er sich vorgenommen. Eigentlich hätte er an diesem Samstag selbst einer derjenigen sein wollen, die auf dem Bildschirm zu sehen sind, über Satellit, Kabel oder Internet, live von der Leichtathletik-Europameisterschaft in Amsterdam. Potye, 21, Hochspringer, hätte um Medaillen kämpfen wollen, um die Olympischen Spiele im August. Doch es ist ruhig geworden um den U-20-Europameister von 2013. Er habe sehr wohl überlegt, ob er sich den Wettkampf überhaupt ansehen soll. "Es bringt nichts, jetzt den Kopf in den Sand zu stecken", entschied er. Für Deutschland wird nur Eike Onnen antreten. Der deutsche Meister ist zwölf Jahre älter als Potye.

Alles begann mit einem Problem an der Leiste, Ende November, mitten in der Vorbereitung auf die Olympiasaison. "Wir waren bester Dinge, hatten richtig Bock auf die Leistungsdiagnostik", erinnert sich Potye. Er und sein langjähriger Trainer Manfred Knopp. Dann kam die Verletzung. Erst im März in Südafrika kehrte er ins Training zurück. Auch seither lief vieles schief. 2,10 Meter sprang er zuletzt bei den deutschen Meisterschaften in Kassel. Noch unmittelbar davor, sagt er, habe er sich "nicht vorstellen können, dass ich da nicht über 2,20 komme". Sein persönlicher Bestwert liegt bei 2,23 Meter, aufgestellt beim renommierten Meeting in Eberstadt. Zwei Jahre ist das nun schon fast her.

"Ich wäre halt auch gerne dabei gewesen. Aber ich kann jetzt nicht ewig bockig sein": Tobias Potye kämpft um seine alte Form. (Foto: Beautiful Sports/Imago)

Alle bis auf Onnen (2,20 m) blieben in Kassel bei 2,10 Meter hängen. Es war kühl, regnerisch, doch das lässt Potye nicht als Ausrede gelten. "Bei meinem dritten Versuch über 2,10 Meter kam ein richtiger Platzregen, genau in dieser beschissensten Situation habe ich meinen besten Sprung des Jahres hingekriegt." Die 2,15 Meter riss er dann dreimal mit der Ferse. Ihm fehlen einfach Sprünge. Routine. Vor dem folgenden Wettkampf in Bühl stand er so lange im Stau, dass er ohne Einspringen starten musste. Es läuft einfach nicht. Andererseits habe er aus Kassel eine biomechanische Auswertung bekommen, die ihm zumindest "Top-Geschwindigkeiten" bescheinigte. Nur am Absprung hapere es. Diese Umsetzung der Geschwindigkeit in Höhe müsse er sich erst wieder richtig antrainieren.

Im Januar, erinnert sich Potye, habe er es erstmals wieder probiert. Es ging nicht. Er habe dann ernsthaft überlegt, diese so wichtige Saison ganz hinzuwerfen. Inzwischen ist er froh, es nicht getan zu haben. Die Leiste zwickt nicht mehr, dafür die Patellasehne. "Ich muss schauen, dass ich damit die nächsten drei Wochen klarkomme", sagt er. Eberstadt in einer Woche wird er auslassen, er will sich lieber bei den bayerischen Meisterschaften in Erding ganz auf sich selbst konzentrieren: "Immer nur Meetings und große Meisterschaften, das ist jedes Mal ein Sprung ins kalte Wasser." Großes Publikum mache die Formsuche nicht einfacher. "Ich will noch das Beste aus dieser Saison herausholen", sagt der 1,98 Meter lange Schlaks, der hinter seiner Brille eher schüchtern wirkt und gar nicht so ehrgeizig, wie er tatsächlich ist. Sein neues Ziel ist die deutsche U-23-Meisterschaft in zwei Wochen in Wattenscheid: "Ich will mich auf keinen Fall wieder so unter Wert verkaufen. Mittelmaß zieht einen runter, das kratzt am Selbstvertrauen." In einigen Tagen sei an der Uni Projektabgabe, Potye studiert in München Kunst und Multimedia, auch danach werde eine Last von ihm abfallen. Die ganz großen Ziele, die er vor der Saison hatte, EM, Olympia, "die musste ich halt einfach vergessen, so bitter das auch war".

Zu allem Überfluss musste der 21-Jährige mehrere Wochen auf seinen Trainer verzichten, der bei seiner Tochter in Australien weilte. Er hätte ihn gebraucht. "Es ist leichter, wenn man jemanden hat, mit dem man sich gegenseitig pusht." Vor mehr als einem Jahr ist Potye vom FC Aschheim zur LG Stadtwerke gewechselt, er wohnt im Olympiadorf; eine Hochsprung-Trainingsgruppe gibt es bei der LG nicht. Manfred Knopp betreut ihn aus Aschheim weiter, auch aus Australien versuchte er zu helfen, telefonisch, mit Kurznachrichten. Letztlich musste Potye allein klarkommen. Andere Münchner Trainer versuchten ihn zu unterstützen, Wurftrainer Joachim Lipske, Landestrainer Andreas Knauer; einen Sprungtrainer gibt es nicht. Vielleicht bringe die Saison noch ein paar Erfolge, sagt Knopp, "aber das ist überhaupt nicht zwingend nötig. In dieser Situation geht mit Gewalt gar nichts, man muss das mit äußerster Gelassenheit nehmen".

Potye hofft, dass er bald Gesellschaft erhält. Lucas Mihota etwa, ein 17-jähriger Rosenheimer, könnte ein neuer Trainingspartner sein. Potye hätte gerne mehr erreicht, seit er zur LG Stadtwerke kam. "Für viele andere im Verein läuft es gut", weiß er, auch sie sieht er in den Übertragungen aus Amsterdam: "Das ist cool. Ich wäre halt auch gern dabei gewesen. Aber ich kann jetzt nicht ewig bockig sein."

Bundestrainerin Brigitte Kurschilgen sieht Potyes "ungeheures Talent", daher bemühe sie sich sehr um ihn. Auch sie hat eine Pechsträhne, fünf ihrer Athleten sind zuletzt ausgefallen. Auch sie versucht Potye aus der Ferne zu helfen. Sein Techniktraining habe zuletzt "in Form von Wettkämpfen stattgefunden" - nicht ideal. Dafür sei es sogar noch gut gelaufen. Potye habe stets einen anfälligen Körper gehabt, verglichen mit anderen habe er eher wenig trainiert. Doch auch mit seinem Fleiß sei sie zuletzt äußerst zufrieden gewesen.

Potyes Blick geht längst über die Saison hinaus, zwangsläufig. Kommendes Jahr findet in Polen die U-23-Europameisterschaft statt, das ist sein "Place to be", wie er sagt; sie will er keinesfalls nur am Bildschirm verfolgen. Dass der 33-jährige Eike Onnen an diesem Samstag für Deutschland springt, zeigt ja zumindest, dass Potye noch Zeit hat.

© SZ vom 09.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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