Leichtathletik:Erfolgsgeschichte mit Bart

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Die Hochspringer der LG Stadtwerke München erleben einen erstaunlichen Aufschwung - vor allem dank Sebastian Kneifel, 34, dem Springer-Sprungtrainer mit der markanten ZZ-Top-Optik.

Von Andreas Liebmann

Finstere Gestalten bewegen sich im Dunkel vor der Fensterfront, man kann die Schatten kaum erkennen. Ein, zwei Mal blickt Sebastian Kneifel während des Gesprächs nervös nach draußen, dann steht er auf und entschuldigt sich: Er müsse nur kurz Bescheid sagen, dass sie das Licht anschalten sollten. Als er zurückkehrt, sieht man durch die Scheiben des Nebenraums die hell erleuchtete Werner-von-Linde-Halle, darin fünf Sportler, die im Halbkreis Dehnübungen machen.

Es sind Hochspringer. So plötzlich, wie sie gerade aus dem Dunkel auftauchten, haben sie sich hier unter dem Dach der LG Stadtwerke zu dieser Trainingsgruppe zusammengefunden. Bis zu neun sind es an manchen Tagen. Das hat maßgeblich mit Sebastian Kneifel zu tun, ihrem Trainer mit dem Rauschebart, den ein Eurosport-Reporter in einem Bericht von der U-18-WM in Kenia im Sommer einen "ZZ-Top-Bart" nannte. Sein Markenzeichen, sagt Kneifel lächelnd: "Ohne Bart und mit Brille könnte ich hier durch die Halle laufen, und keiner würde mich erkennen."

Hätte er früher nicht so oft Urlaub in Bayern gemacht, hätte es den Hessen nie hierher verschlagen

Bis Kneifel kam, gab es hier einen einzigen Hochspringer: Tobias Potye, 22, U-20-Europameister von 2013, der mit seinem langjährigen Coach Manfred Knopp vor drei Jahren vom FC Aschheim kam; als Einzelkämpfer in einem Vereinsverbund, der eher Läufer, Werfer und Weitspringer hervorbringt. Oft stand Potye, der diesen Sommer mit 2,25 Meter eine neue Bestleistung aufgestellt hat, alleine in dieser Halle.

Bart, Brille, Bandscheibe: So alt ist Sebastian Kneifel (rechts, neben dem U-18-WM-Zweiten Chima Ihenetu) eigentlich gar nicht. Vor drei Jahren übersprang er noch 2,19 Meter, "ganz easy". (Foto: skone212 / oh)

Dann tauchte Kneifel auf, vor etwas mehr als einem Jahr. Etwa zur selben Zeit begann Lucas Mihota hier zu trainieren, dessen Bestleistung inzwischen 2,23 Meter beträgt. Der 18-Jährige gehört der Sportfördergruppe der Bereitschaftspolizei Dachau an und wechselt zum neuen Jahr nun auch offiziell von seinem Heimatverein SB Rosenheim zur Münchner LG. "Zwei beflügelnde Hochsprung-Asse" seien da zum Training hinzugestoßen, schrieb Potye im vergangenen Winter auf seiner Facebook-Seite - man muss dazu wissen, dass auch Kneifel selbst noch aktiv ist. Er ist 34, doch es ist keine drei Jahre her, dass er seine Hallenbestleistung auf 2,19 Meter verbesserte. Im Freien kam er mal auf 2,21 Meter. "Das reicht für nichts", sagt er. "Ich bin trotzdem stolz darauf."

Vielleicht wäre der ehemalige Leverkusener nie in München gelandet, wäre dort im Jahr 1972 nicht ein gewisser Hans Kneifel DM-Zweiter mit der 4×400-Meter-Staffel geworden. Die Medaille liegt heute bei dessen Sohn zu Hause. Ganz sicher hätte es den Hessen Sebastian Kneifel nie hierher verschlagen, hätte seine Familie früher nicht so oft Urlaub in Bayern gemacht, wo vor allem die Landeshauptstadt eine besondere Faszination auf ihn ausübte: "Die Berge, die historischen Gebäude, der Englische Garten, die Isar: Ich kann mir keine schönere Stadt vorstellen", schwärmt Kneifel. "Für einen solchen Job wäre ich in keine andere Stadt gegangen."

Heute zwickt den 34-Jährigen öfter der Rücken. Sein Lehrmotto: "Schaut, das kann selbst ein alter Mann." (Foto: skone212)

Ganz sicher wäre er heute nicht hier, hätte er nicht auch der Bundestrainerin Brigitte Kurschilgen derart von Bayern vorgeschwärmt, 2015, auf der Heimfahrt von der Regensburger Gala. "Da hat sie gesagt, dass beim Bayerischen Leichtathletik-Verband die Stelle des Hochsprung-Trainers frei wird", erinnert sich Kneifel. Weil Roland Fleischmann ging - nach unglaublichen 38 Jahren. Anfangs sei er überall nur als "der neue Fleischmann" vorgestellt worden, erzählt Kneifel schmunzelnd.

2015 war ein wichtiges Jahr. Gleich zu Beginn hatte er die 2,19 m übersprungen, mit fast 32. "Ganz easy", sagt er. Wieso auch nicht: Eike Onnen, der deutsche Spitzenspringer, sei noch ein Jahr älter als er. Doch dann zwickte der Rücken. Vier Wochen später bei der deutschen Hallenmeisterschaft war er Letzter. Schließlich musste er an der Bandscheibe operiert werden. Wäre es anders gelaufen, "hätte ich vielleicht doch den Ehrgeiz gehabt, nicht aufzuhören". Heute ist Kneifel irgendwie halbaktiv. Er habe seine Laufbahn beendet, sagt er, er habe nicht mehr den Anspruch, Bestleistungen zu bringen. Aber er springt eben doch noch, im Training, und wenn es sich einrichten lässt, auch bei ein, zwei Wettkämpfen. "Ich finde es spannend zu sehen, wie hoch ich mit möglichst wenig Aufwand noch komme", erklärt er, "das ist jetzt meine Ambition." Er erkläre viel im Training, aber ab und zu macht er auch gerne vor, was zu tun ist. Nach dem Motto: "Schaut, das kann selbst ein alter Mann." Eigentlich wollte er gar nicht in der Leichtathletik arbeiten, er ist Athletiktrainer, der Zufall führte ihn zum Hockey, zum RTHC Leverkusen und zum Deutschen Hockey-Bund. Dann kam die Chance mit München.

Der Einstieg fiel ihm leicht. Potye hatte ja schon einen Trainer. Mihota, U-18-Europameister von 2016, wird von seiner Mutter Antje trainiert. Mit beiden konnte er sich beraten. Allmählich kamen andere hinzu, Springer, die Kneifel sympathisch fand, Lukas Pinieck, Emanuel Vogel, Nadine Lanners. Die Gruppe helfe allen, glaubt er, durch sie entwickle sich im Training eine ganz neue Dynamik. Auch der zum Grübeln neigende Potye sei dadurch "wie ausgewechselt". Und es fanden sich weitere Zugänge: Jacqueline Sterk, eine bayerische Top-Weitspringerin, und Laura Gröll, zuletzt DM-Dritte im Hochsprung. Beide sind 19 und kamen studienbedingt hierher. Sie habe vorher nur von Potye und Mihota gewusst, berichtet Laura Gröll. Zur LG sei sie gewechselt, weil Kneifel "mehr Erfahrung" mitbringe als ihre Trainer im fränkischen Eckental. Dass es hier auch eine Trainingsgruppe gebe, habe sie "positiv überrascht": "Wir ergänzen uns gut, machen Späße, trotzdem sind alle hier, um etwas zu erreichen", sagt Gröll.

Mit seiner eigenen Laufbahn ist Sebastian Kneifel unzufrieden, für diese Antwort muss er keine Sekunde überlegen. "Ich war mal der beste deutsche Jugendliche." Deutscher U-18-Hallenmeister, 2001. Bis heute wisse er nicht, "woran es danach gescheitert ist". Nach einem Trainingslager in Tunesien habe er nicht mehr gewusst, wie Hochsprung geht: "Mein Bewegungsmuster, die ganze Leichtigkeit - alles weg", erzählt Kneifel. Er verpasste die Qualifikation für die Hallen-EM, habe die Welt nicht verstanden: "Bis dahin hatte ich ein Gefühl für den Hochsprung. Alles, was später kam, war nur mit Arbeit verbunden."

Als Trainer, sagt Kneifel nun, habe er einen völlig neuen Zugang zu seiner Sportart gefunden. "Ich mache Sachen plötzlich besser vor, als ich sie früher selbst hinbekommen habe", wundert er sich. Er fühle sich wie 20, versichert er - wenige Minuten, nachdem er erzählt hat, dass ihn heute leider die Bandscheibe schmerzt. Kneifel, der Athlet, will noch nicht so recht Ruhe geben. Der 34-Jährige hat ja auch noch ein (nicht ganz ernst gemeintes) Ziel: Im Sommer erst versuchte er sich wieder an 2,10 Meter. "Ich will den Weltrekord der Vollbärtigen aufstellen", sagt er augenzwinkernd. Seit Anfang 2016 wächst dieser Bart. Allzu viele Hochspringer mit so einer prächtigen ZZ-Top-Matte werde es ja wohl nicht geben.

© SZ vom 30.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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