Leichtathletik:Durch den Wind

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Die Olympiastarterin Christina Hering läuft völlig unerwartet der WM-Norm über 800 Meter hinterher. Nur eine Chance verbleibt ihr noch.

Von Andreas Liebmann, München

Als Christina Hering am Samstag aufwachte, fühlte sie sich verfolgt. Sie schaute aus dem Fenster und ahnte Schlimmes: "Es war, als hätte ich den Wind aus Schweden mit nach München gebracht", sagte die 22-Jährige. Dabei hatte sie an diesem Tag etwas Wichtiges vor, nämlich einen Start bei den oberbayerischen Leichtathletik-Meisterschaften in Germering. Eine Olympiateilnehmerin wie sie sieht man bei solchen Wettkämpfen selten, doch es war eine Notlage: Die 800-Meter-Läuferin von der LG Stadtwerke München kämpft noch um ihre Norm für die Weltmeisterschaften in London (5. bis 13. August), 2:01 Minuten. Doch ihr läuft die Zeit davon. "Ich habe überhaupt nicht erwartet, dass das zum Problem werden könnte", gibt sie zu. Inzwischen aber ist es ein Problem.

Christina Hering bangt um ihre WM-Teilnahme. (Foto: imago)

Vor zwei Wochen bei einem internationalen Meeting in Dessau sei ihr erstmals so richtig bewusst geworden, "dass die Zeit allmählich knapp wird", wie sie sagt. Sie sei dort eigentlich recht zufrieden gewesen mit Rang zwei hinter der aktuellen Europameisterin Nataliya Pryshchepa, doch wegen starker Winde war sie eine Sekunde zu langsam. Auch bei der Team-EM in Lille eine Woche später war sie zwar froh, "dass ich dabei sein durfte" und sieben Punkte zum deutschen EM-Sieg beitrug. Doch das Rennen dort war taktisch geprägt und daher langsam. Weshalb Herings Stresspegel allmählich spürbar stieg.

Die ganze Trainingsgruppe kam nach Germering, um für Hering Tempo zu machen - vergeblich

Schon Mitte vergangener Woche hatte sie deshalb einen außerplanmäßigen Abstecher gemacht. Am Mittwochnachmittag war sie noch zum Repräsentieren und Autogramme schreiben bei einem Münchner Schulwettkampf gewesen, am Abend flog sie dann für einen weiteren Versuch nach Schweden, wo sie tags darauf bei einem internationalen Meeting in Sollentuna siegte - diesmal wegen "extremer Winde", wie sie sagte, in einer deutlich zu langsamen Zeit. Am Freitagabend kehrte sie heim, am Samstag ging es dann also weiter nach Germering.

Diskuswerferin Amelie Döbler (im Bild beim Kugelstoßen) hat ihre Normen erfüllt. (Foto: Claus Schunk)

Hering hatte Begleitung: Christine Gess, Mareen Kalis und Katharina Trost hatten sich bereit erklärt, mit ihr zu laufen, ihre starke Mittelstrecke-Trainingsgruppe bei der LG Stadtwerke also. "Das war richtig toll, dass die gesagt haben: Wir sind alle dabei und geben unser Bestes", sagte Hering, "ich bin dafür wirklich dankbar." Nur hatte sie eben auch dieser Wind begleitet. "Wir haben es eigentlich perfekt getroffen", fand Hering, die Taktik ging auf, alle gaben ihr Bestes. Doch gerade auf den letzten 200 Metern, als Hering auf sich allein gestellt war, habe sie gemerkt, wie viel Kraft der Wind kostete. 20 Sekunden vor der Zweitplatzierten lief sie ins Ziel (ihre Mitstreiterinnen waren vorher ausgestiegen), aber auch 75 Hundertstelsekunden hinter der Norm. "Auf jeden Fall habe ich es versucht", sagte sie, "aber ich bin schon enttäuscht." Am Sonntag repräsentierte sie ihren Sport dann noch beim Münchner Sportfestival am Königsplatz, nun will sie sich ausruhen - für die deutschen Meisterschaften am kommenden Wochenende in Erfurt, ihre allerletzte Chance. Klappt es nicht, findet die WM ohne Hering statt.

Dass man auch eine allerletzte Chance nutzen kann, haben am vergangenen Wochenende zwei von Herings LG-Kollegen gezeigt: Amelie Döbler und Paul Walschburger. Beide hatten eine ganze Saison lang vergeblich versucht, ihre Qualifikationsnormen für die U20-Europameisterschaften im italienischen Grosseto (20. bis 23. Juli) zu erfüllen, eben bis zum allerletzten Wettkampf, der U20-Gala in Mannheim. Die Diskuswerferin Döbler war vor einem Jahr Zweite der U18-WM, doch im Frühjahr hatte sie sich zweimal am selben Knöchel eine Bänderverletzung zugezogen. Entsprechend zäh lief die Saison. Zuletzt in Schapbach hatte sie bei besten Bedingungen vergeblich versucht, die vorgegebenen 50 Meter zu erreichen, in Mannheim waren die Bedingungen schlechter. "Ich glaube, dass sie sehr nervös war", sagte Andreas Bücheler, einer der beiden Münchner Trainer der 18-Jährigen. Doch nach drei zu kurzen Würfen und einem ungültigen Versuch flog die Scheibe 50,33 Meter weit. Das bedeutete Platz zwei hinter der Deutschen Julia Ritter - und beste Chancen für eine EM-Nominierung Mitte dieser Woche. Denn drei Werferinnen haben nun diese Norm übertroffen, und drei freie Startplätze gibt es. Eine Punktlandung. "Da dürfte nichts mehr schiefgehen", glaubt Bücheler.

Auf dem Sprung zur EM: Dreispringer Paul Walschburger. (Foto: imago/Beautiful Sports)

Der Dreispringer Paul Walschburger war gar nicht sonderlich nervös in Mannheim. Er hatte die Hoffnung, sein Saisonziel noch zu erreichen, fast aufgegeben, zumindest versuchte er, "nicht mehr aktiv an diese Norm zu denken". Das fiel ihm tatsächlich leicht, denn am Abend zuvor fand die Abiturfeier des 19-Jährigen statt. Einen Notenschnitt von 1,3 hätte er zu feiern gehabt, außerdem einen Sonderpreis seiner Schule für besondere Verdienste, schulisch, sozial, sportlich und musikalisch, wie Walschburger berichtete, der neben seiner Schul- und Sportlaufbahn auch schon ein Album als Singer-Songwriter herausgebracht hat. "Die Feier musste ich abkürzen, ich bin noch am Abend nach Mannheim aufgebrochen", erzählte das Multitalent, das im Wettkampf nun aber eine besondere Gelassenheit spürte. Nach ordentlichem Auftakt und zwei ungültigen Sprüngen ging der fünfte richtig weit, doch Walschburger schlug enttäuscht die Hände vors Gesicht. Es begann zu nieseln, er spürte, dass er sich leicht an der Ferse verletzt hatte, und an der Anzeige hatte er gesehen, dass es wieder nicht gereicht hatte. "Er hatte sich aber verschaut", erzählte sein Trainer Richard Kick genüsslich, hatte 15,50 Meter gelesen, wo tatsächlich 15,60 Meter standen - und das war nicht nur eine neue persönliche Bestleistung für Walschburger, sondern auf den Zentimeter genau die Norm für Grosseto. Auch für ihn sollte es nun hinhauen mit der offiziellen Nominierung, kein anderer Deutscher hat die Norm geschafft. Damit habe der TSV München-Ost für die LG Stadtwerke Döbler und Walschburger zur U20-EM gebracht, Selina Dantzler zur U18-WM und Paulina Huber und Valentin Döbler zur U23-EM. "Das ist nicht alltäglich", findet Kick. Als Walschburger seinen Fehler erkannte und zu jubeln begann, rief jemand, er solle doch erst noch warten, ob die Windstärke regulär gewesen sei. Kurz verharrte er, dann stand fest: Der Wind hielt zu ihm.

© SZ vom 04.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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