Leichtathletik:Das Leben danach

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Kugel oder Scheibe? Die Welt war für Amelie Döbler schon immer mehr als das. Die beiden Wurfgeräte, mit denen sie deutsche Meisterin war, will die Preisträgerin der SZ-Talentiade von 2015 künftig gar nicht mehr in die Hand nehmen. (Foto: Theo Kiefner)

Mit 19 beendet die Diskuswerferin Amelie Döbler ihre Laufbahn. Sie war zuletzt nicht mehr bereit, alles in den Sport zu investieren.

Von Andreas Liebmann, München

Ihr innerer Abschied dauerte lange, man konnte ihn von außen kaum bemerken. Jetzt, da es ein offizieller Abschied geworden ist, sieht man ihn deutlich. In einem Jeansjäckchen sitzt Amelie Döbler auf einem dieser Sprungkästen, die man aus dem Sportunterricht kennt; die Beine in schwarzen Leggings, an den Füßen glitzernde Sneakers, lange, rot lackierte Fingernägel, noch längere, blondierte Haare.

Viele Jahre lang war dies hier ihr zweites Zuhause, bis vor wenigen Wochen. Nun wirkt sie fast fremd in der Münchner Werner-von-Lindehalle, zu der nur Kaderleichtathleten Zutritt haben. Die jungen Männer, die man im Hintergrund im Kraftraum sieht, tragen Shirts und Sporthosen, einer läuft auf Krücken. "Ich bin hier nach wie vor gerne", erklärt Amelie Döbler, wieso sie nun ausgerechnet diese Halle als Treffpunkt gewählt hat. Wegen der alten Gefühle. "Hier fällt es mir leichter, darüber zu sprechen", sagt die einst so hoffnungsvolle Münchner Diskuswerferin, die nun erklären will, wieso sie nicht länger eine hoffnungsvolle Diskuswerferin sein will.

Amelie Döbler ist erst 19 Jahre jung. Vor vier Jahren war sie deutsche U-16-Meisterin im Kugelstoßen und Diskuswerfen. 2016 war sie deutsche U-18-Meisterin mit dem Diskus. Im selben Jahr wurde sie Zweite bei der U-18-Europameisterschaft in Tiflis, ihr größter Erfolg. Und in der Altersklasse U20 gewann sie die deutsche Winterwurf-Meisterschaft, das ist erst wenige Monate her. Doch schon lange vorher, erzählt sie, habe sie immer mal wieder mit dem Gedanken ans Aufhören gespielt. "Ich habe das schon so oft gesagt, dass ich mir irgendwann selber nicht mehr geglaubt habe."

Inzwischen kann sie sich wieder glauben. Vor etwa sechs Wochen ging sie zu ihrem Trainer Gerhard Neubauer, es war kein leichter Weg. Schon ihrem Vater, der "diesen Sport bis heute lebt", wie Amelie Döbler es ausdrückt, hat Neubauer einst das Kugelstoßen beigebracht, und auf dessen Bitte hin unterrichtete er auch die nächste Generation, die Kinder Valentin und Amelie. "Gerd hat immer gesagt, mein Papa war sein erster Sportler und wir würden seine letzten sein", erzählt Amelie Döbler. Sie spielt nervös mit einem silbernen Armreif, als sie von dem Gespräch mit ihrem Trainer erzählt, dem 64-Jährigen, der seit Kurzem Präsident des Bayerischen Leichtathletik-Verbands ist und der viel in sie und ihren Bruder investiert hat.

Es war nicht das erste solche Gespräch, es gab schon eines, nach dem verkorksten 46-Meter-Freiluftauftakt in Germering im Mai. Doch ihr hätten viele Freunde zum Weitermachen geraten, und auch ihr Trainer habe ihr Zuversicht gegeben und ihr signalisiert, dass er an sie glaube. All die Wettkämpfe standen da ja erst bevor.

Die Zweifel begleiten den Teenager aber schon länger. Vor etwas mehr als einem Jahr hatte Döbler zwei Bänderverletzungen am Knöchel kurz nacheinander, die bislang einzigen größeren Blessuren. Auch damals habe sie sich gefragt: "Was bringt das eigentlich alles?" Sie habe dann die U-20-EM in Grosseto zur Motivation gehabt, die sie trotz der Verletzungen auf den letzten Drücker erreichte. "Das war noch eine richtig gute Erfahrung", erinnert sie sich: nicht aufgegeben zu haben. Doch am Ende verpasste sie als Neunte das Finale. Und so rettete sie sich von Anlass zu Anlass: deutsche Meisterschaft, ein Länderkampf in Nantes ("davor aufzuhören, wäre blöd"), die Winterwurf-DM, bei der ihr in Halle an der Saale 51 Meter gelangen. Als Nächstes wäre die U-20-Europameisterschaft in Tampere gekommen, erneut ein großes Ereignis. Die Qualifikation hätte sie packen können. Und dann die deutschen Meisterschaften in Nürnberg am kommenden Wochenende, ihren Wettkampfplan hat sie noch immer in ihrem Handy.

"Im Februar hätte ich gesagt, 54, 55 Meter können wir im Sommer schaffen", sagt Trainer Neubauer. Doch seine Athletin zog den Schlussstrich früher. Seit Februar, März habe sie sich nur noch in jedes Training "geschleppt", stellte sie fest. Und das habe an niemandem als ihr selbst gelegen - das zu betonen ist ihr wichtig.

Die Sache ist die: Amelie Döblers Diskus-Bestmarke von 51,20 Meter ist etwas älter als zwei Jahre, seither stagniert sie. "Wenn ich etwas mache, will ich Erfolg haben", erklärt sie, "zu den Besten gehören" - zumal wenn dieses Etwas neun Mal Training pro Woche erfordert. Ihr sei es schon immer schwer gefallen, Kraft aufzubauen in Armen und Beinen, egal was sie probierte. Sie sieht das im Vergleich mit ihren Konkurrentinnen, denen sie etwa im Bankdrücken unterlegen sei. Und sie hat ja den direkten Vergleich zu ihrer Trainingspartnerin Selina Dantzler, mit der sie seit vielen Jahren zusammen übt, mit der sie gut befreundet ist und die nun im Kugelstoßen alleine bei der EM in Tampere antrat, wo sie vergangenen Mittwoch Vierte wurde. Dantzler ist jünger als Döbler, kleiner, und obwohl sie dafür eigentlich zu leicht sein müsste, hält sie am Kugelstoßen fest, statt auf den Diskus auszuweichen. "Ich habe sie immer dafür bewundert, dass sie sich nicht beirren lässt", sagt Döbler. Ihr selbst aber wurde irgendwann klar: "Die Erfolge, die ich hatte, werden im Erwachsenenbereich nicht mehr möglich sein." Und die unbedingte Motivation, täglich an die eigenen Grenzen zu gehen, war verschwunden.

Früher hatte Amelie Döbler einen sprichwörtlich riesigen Vorteil: Sie ist 1,93 Meter groß. "Man kann alles lernen - außer wachsen", hatte ihr Trainer Neubauer stets gesagt. Doch Döbler hat sich nicht nur innerlich verändert, auch äußerlich. Vor fast drei Jahren nahm sie mehr als 30 Kilo ab. Sie war dadurch schneller, aber auch ein wenig zu leicht, zumindest fürs Kugelstoßen. Sie machte das für sich, nicht für ihren Sport. "Ich habe mich in meiner Haut nicht mehr wohlgefühlt." In diesem Frühjahr hat sie wieder Diät gemacht, im Training fehlte ihr dann natürlich "jede Energie". Auch das spielte eine Rolle. Und dann gibt es ja noch das Leben nach dem Leistungssport: Schon als Kind habe sie einen Berufswunsch gehabt, der sich zufälligerweise gut mit dem Sport hätte vereinbaren lassen: "Als die anderen Prinzessinnen werden wollten, habe ich gesagt, ich will zur Polizei", erzählt sie. Doch dieser Traum platzte wegen eines Augenleidens. Aktuell beendet sie ein Freiwilliges Soziales Jahr beim TSV München-Ost, danach beginnt sie eine Ausbildung zur Erzieherin. "Ich will nicht irgendwann ohne alles dastehen."

Amelie Döblers Entscheidung ist logisch und durchdacht. Und doch fiel sie ihr schwer. Da ist ihr Bruder Valentin, 21, mit dem sie jedes Training verbracht hat und der nun alleine weitermacht: "Wir haben immer gesagt: Wir ziehen das gemeinsam durch, und irgendwann stehen wir zusammen bei Olympia." Da ist ihr Trainer, der traurig ist, es ihr aber nicht verübelt, "jetzt für ihr Leben zu sorgen". Ihre Freunde, fast alle aus der Leichtathletik. Und natürlich die Eltern, die sie über so viele Jahre unterstützt haben. Zur EM in Tiflis, erinnert sich Döbler, habe sich ihr Vater extra freigenommen und sei mitgeflogen. "Das hat mir viel Kraft gegeben. Ich weiß heute noch, was er damals anhatte." Auch er sei zunächst "schockiert" gewesen von ihrem Entschluss. "Ich habe das die Hälfte meines Lebens gemacht", erklärt Döbler.

Was ihr all der Aufwand im Nachhinein gebracht hat? Amelie Döbler zögert keine Sekunde. "Alles", sagt sei. Der Sport habe ihr Selbstvertrauen gegeben, er habe ihr viele Freunde und tolle Erlebnisse beschert. Mit ihrem Bruder habe sie oft über das Aufhören gesprochen, er habe sie dann gefragt, wer sie denn überhaupt wäre ohne ihren Sport; wenn sie plötzlich nicht mehr Amelie, die erfolgreiche Werferin ist. Darauf will sie nun eine Antwort suchen.

© SZ vom 19.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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