Leichtathletik:Aufbruch in die neue Welt

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12. Juli 2017, Kasarani Arena, Nairobi/Kenia: Selina Dantzler gewinnt den Weltmeister-Titel der U18 im Kugelstoßen – und am Leichtathletik-Himmel blitzt ein neuer Stern auf. (Foto: Joosep Martinson/Getty Images)

Die Kugelstoßerin Selina Dantzler zieht zum Studieren nach Miami. In der ehemaligen U-18-Weltmeisterin verliert die Wurfgruppe der LG Stadtwerke ein weiteres Aushängeschild.

Von Andreas Liebmann, München

Die Sache mit der neuen Brille sagt eine Menge aus über Selina Dantzler. Auf den letzten Drücker hat sie sie bestellt, sie will ja etwas sehen in der neuen Heimat. Ein schlankes, graues Gestell mit großen runden Gläsern. Mehrere wohlmeinende Menschen, darunter die Verkäuferin, hätten ihr zu verstehen gegeben, dass es Modelle gäbe, die ihr, nun ja: vielleicht noch besser stünden. Doch Dantzler, 18 Jahre, blieb bei ihrer Wahl. Was soll's, sagt sie, ihr habe sie eben gefallen, oft werde sie sie eh nicht tragen. "Ich glaube, ich bin ein Freund schneller Entscheidungen."

Wäre Selina Dantzler anders, wäre sie womöglich nie Weltmeisterin geworden. Vor gut einem Jahr war das, in Kenia, sie gewann dort den Wettbewerb im Kugelstoßen der Altersklasse U18. Dabei hatten ihr die Trainer schon oft zu verstehen gegeben, dass ihre Erfolgschancen im Diskuswurf langfristig vielleicht besser wären, weil Dantzler nach physikalischen Gesetzmäßigkeiten eigentlich zu leicht sein müsste zum Kugelstoßen. Doch was soll's, diese Disziplin gefällt ihr eben - noch weit besser als die neue Brille. Inzwischen, sagt sie lächelnd, gebe es keine Überredungsversuche mehr. Und nun wird sie ihr Sport in die USA führen, an die University of Miami, die ihr ein Stipendium gab.

Kugelstoßen als Leichtgewicht? "Vielleicht hat es nur noch keiner richtig probiert."

Die erfolgsverwöhnte Wurfgruppe der LG Stadtwerke München verliert somit binnen weniger Wochen ihr zweites Aushängeschild nach Amelie Döbler. Die 19-Jährige, vor zwei Jahren Zweite der U-18-Europameisterschaft mit dem Diskus, hat gerade ihre Karriere beendet. Nun verlässt auch Dantzler die Trainingsgruppe im TSV München-Ost - mit dem Unterschied, dass sie weiter für ihren Verein starten will.

Trainer Andreas Bücheler ist von dieser Entwicklung mäßig begeistert. "Ich wäre den Weg gerne weiter mit ihr gemeinsam gegangen", gibt er zu, "aber das ist eben eine Entscheidung, die nicht nur das Sportliche betrifft." Eine, die er für "risikoreich" hält, denn wenn es nicht funktioniere in den USA, könne das "auch das Ende bedeuten". Dennoch findet Bücheler den Schritt richtig: "Ich kann das voll und ganz nachvollziehen." In München hätten sie nun eben wieder mehr Zeit für die Jüngeren.

Das Wasser eines Brunnens plätschert, Selina Dantzler sitzt in der Mittagssonne am Rotkreuzplatz und sinniert: "Miami und München, ich hab mir die zwei schönsten Städte ausgesucht." Langsam sickere es doch in ihr Bewusstsein, dass sie Deutschland in wenigen Tagen verlassen wird. Es gab zuletzt viel zu tun für den Teenager, der gerade sein Abitur bewältigt hat: An den zurückliegenden Wochenenden fanden zwei deutsche Meisterschaften statt. Von einigen Freunden konnte sie sich gar nicht richtig verabschieden, selbst dieses Treffen hier hat sie noch rasch mit dem Abholen der Brille verknüpft.

Auch ihr Weg in die USA war eine Spontanentscheidung. Das zurückliegende Jahr war kraftraubend, "total heftig", wie sie sagt. Sechs bis sieben Mal Training pro Woche, etwas weniger als üblich, hat sie im Abiturstress absolviert, nur zwei von fünf Trainingslagern besucht. Im Training sei es ihr schwergefallen, fokussiert zu sein. Sie plagte sich ja auch mit Fragen nach der Zukunft herum. "Eigentlich wollte ich ein Jahr Pause machen, in dem ich mich nur auf den Sport konzentriere", erzählt sie, "und dann vielleicht Bundeswehr oder Polizei. Natürlich gab es auch die Überlegung, mit dem Sport aufzuhören, das habe ich aber schnell wieder verworfen." So wirklich könne sie sich nicht in einer Uniform vorstellen. "Ich bin eher so der Bürostuhlmensch", behauptet sie grinsend. Dann sei die Idee mit den US-Unis gekommen. Als erfolgreicher Sportler werde man mit deren Anfragen regelrecht "zugespamt". Und weil Selina Dantzler selten den leichtesten Weg geht, hat sie bei einer angefragt, von der sie kein Angebot hatte. Man habe geskypt, im vergangenen Herbst folgte sie einer Einladung, um das Haus, den Trainer und die anderen Athleten kennenzulernen - und nun packt sie eben ihre Koffer.

Das Lustige an dieser Geschichte: Zum Kennenlernen reiste Selina Dantzler überhaupt das erste Mal in die USA. Dabei stammt ihr Vater James von dort, die ganze Großfamilie väterlicherseits lebt dort. Daheim redet ihr Vater Englisch mit ihr, sie antwortet auf Deutsch. Es ist also kein Neuland, das sie nun bald betritt, sondern der andere, der bisher unbekannte Teil ihrer Heimat. Jene Uni in Miami, erzählt sie, wäre einst die Traum-Uni ihres Vaters gewesen, eine private Einrichtung, die man sich ohne Stipendium kaum leisten könne. Dank ihrer Erfolge bekommt sie dort freie Kost und Logis und sogar etwas Taschengeld. Vier Jahre wolle sie bleiben und "irgendwas mit Wirtschaft" studieren; vielleicht sechs, falls alles passt; vielleicht werde sie auch nach einem Jahr enttäuscht zurückkehren, wer wisse das schon. "Man muss auch mal was wagen", findet sie.

Hinter all ihren Überlegungen steht das Grundproblem, dass man mit Leichtathletik in Deutschland kein Geld verdient und Leistungssport kaum mit Beruflichem in Einklang bringen kann. "In München studieren, Sport machen und arbeiten, um hier eine Wohnung zu bezahlen - das wäre nicht gegangen", meint Selina Dantzler.

Ihr neuer Trainer Cory Young steht mit Bücheler bereits in enger Verbindung, sie tauschen sich aus. Kürzlich haben sie sich auch im finnischen Tampere getroffen, wo Dantzler ihren Saisonhöhepunkt hatte: die U-20-Weltmeisterschaft, bei der sie Vierte wurde, mit einem Stoß auf 16,16 Meter, knapp einen Meter hinter den drei Medaillengewinnerinnen. Für Bücheler war das mehr als in Ordnung, er hätte mehr Stagnation erwartet in diesem schwierigen Jahr.

Trotz Prüfungsstress hat Dantzler ihre Bestmarke im Mai auf 16,75 Meter und damit um einen Meter verbessert. Und ihr neuer Trainer hat auch gleich live gesehen, was das Besondere ist an Selina Dantzler in der Kugelstoß-Welt. Fast all ihre Konkurrentinnen in Tampere waren deutlich kompakter und schwerer als sie. Bei Dantzler kann man anhand des Aussehens kaum erraten, ob sie gleich über Hürden sprintet oder Richtung Weitsprunggrube. "Er findet meine Technik interessant", sagt sie über Young, den neuen Coach. Sie hofft in Miami auf "neue Reize", die sie voranbringen. Sie werde dort ein höheres Pensum absolvieren und nicht mehr hetzen müssen, um ihren Sport auszuüben. Dass Bücheler sie weiter unterstützt, weiß sie zu schätzen. "Ich bin ihm sehr dankbar. Er hat sein Leben doch stark nach mir gerichtet."

Völlig verändern werde sie sich auch in Miami nicht. Bisher gleicht Dantzler durch Schnellkraft aus, was ihr an Wucht fehlt, und sie ist überzeugt: "Zu viel Masse machen kann bei mir nach hinten losgehen. Es war von Anfang an klar, dass ich nie megaviel zunehmen werde." Höchstens ein paar Kilo mehr Muskelmasse aufzubauen, könne sie sich vorstellen, damit tue sie sich leicht. Doch ob man so im Kugelstoßen auf Dauer Erfolg hat? "Irgendwer muss ja der Erste sein", entgegnet sie, "vielleicht hat es nur noch keiner richtig probiert." Gut möglich, dass man auch in Miami dezent versuchen wird, sie mehr in Richtung Diskus zu lenken. Andererseits: siehe Brille.

Die deutschen Meisterschaften zuletzt brachten keine großen Erfolge mehr. Zweimal Silber in der U20 (Kugel und Diskus), davor Rang zwölf bei ihrer Premiere bei den Erwachsenen. "Die Spannung war weg nach dem internationalen Auftritt", das sei zu erwarten gewesen. In Tampere aber, als sie wie damals in Kenia Gleichgesinnte aus aller Welt traf und den ganzen Tag Deutschland-Klamotten trug, da habe sie wieder gemerkt, wofür sie das mache. Auch in den nächsten Jahren will sie versuchen, die Meisterschaften in Deutschland mitzumachen und international anzutreten. Aber nun muss sie ja erst mal ankommen in Miami.

© SZ vom 04.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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