Seit einer Stunde stehen Robert Schmidt und Stefanie Dietrich auf dem Kunstrad, aber die Lenkerdrehung funktioniert noch immer nicht so, wie sie sich das vorstellen. "Das ist die Zitterübung, bei der haben wir uns vergangene Saison schon mit zwei Drehungen unsicher gefühlt. Jetzt versuchen wir es mit drei Drehungen", sagt Schmidt.
Die beiden Oberschleißheimer Schmidt und Dietrich fahren seit sechs Jahren zusammen Kunstrad und haben genauso oft den bayerischen Jugendtitel gewonnen. Im Mai holten sie den Sieg bei den deutschen Meisterschaften der Junioren - ein krönender Abschluss ihrer Jugendzeit. "Nächsten Sommer müssen wir erstmals im 2er-Kunstrad der Erwachsenen antreten. Für die Jugendkonkurrenz sind wir zu alt", sagt Schmidt, der mit sechs Jahren zum Kunstradfahren kam.
Der 18-Jährige steht bei der Übung auf dem Lenker und muss sich mit ausgestreckten Armen drei Mal um die eigene Achse drehen, während seine Partnerin sich hinter ihm auf den Sattel schwingt und Tempo machen soll. "Es ist wichtig, Balance und Körperspannung zu halten und darauf zu achten, dass das Kunstrad nicht stehen bleibt", sagt Dietrich, die den Sport bei einem Sommerferienprogramm in Oberschleißheim kennenlernte. Bisher verliert aber entweder Schmidt das Gleichgewicht oder Dietrich sitzt nicht schnell genug auf dem Sattel - das Rad wird langsamer, kippt krachend um und mit ihm die Sportler. Beide steigen wieder auf und probieren es erneut, eine Geduldsübung.
Drei Mal pro Woche trainieren sie in der Schulturnhalle Parksiedlung in Oberschleißheim. Die Lenkerdrehung ist eine von vielen Übungen, die Schmidt und Dietrich gemeinsam mit ihrem Trainer Michael Grädler ausprobieren, um eine neue Choreografie für das Jahr 2015 zusammenzustellen. Am Ende muss die fünfminütige Kür 30 Übungen enthalten, die erst auf zwei Rädern synchron und dann auf einem gemeinsamen Rad gezeigt werden.
Neben den Grundelementen wie dem Vor- und Rückwärtsfahren gehören auch anspruchsvolle Kunststücke wie der Handstand auf dem Lenker und Drehsprünge zu einer gelungenen Vorführung. Außerdem muss sich das Team blind vertrauen. "Jeder Sportler fährt anders, deshalb braucht man einen festen Partner. Wenn der mal nicht da ist, funktioniert die Choreografie nicht", sagt Schmidt.
Ein Jahr hat das Duo vom RSV Schleißheim nach den Sommerferien Zeit, bis der erste von einem Dutzend Wettkämpfen der deutschen Serie stattfindet. "Diese Monate gefallen mir am besten. Wir fahren nicht immer das gleiche Programm, sondern tüfteln viel herum", sagt Dietrich. Während Schmidt bei den Wettkämpfen zusätzlich im 1er-Kunstrad antritt, konzentriert sich die 16-Jährige auf die Kür mit Partner. "Ich hatte keine Lust mehr, alleine zu fahren. Da gibt es keinen, der dich motiviert, wenn es mal nicht so gut läuft."
Akrobatik auf dem Rad, das beschreibt den Sport am besten. Das Kunstrad ist dabei keineswegs ein normales Fahrrad - auch wenn es diesem auf den ersten Blick ähnelt. Es ist individuell auf den Sportler abgestimmt: Der Lenker ist gebogen und lässt sich um 360 Grad drehen, die Reifen sind dicker und der Sattel breiter; Bremsen und Gangschaltung gibt es nicht. Je höher das Niveau der Übungen ist, desto besser wird die Kür bewertet. "Es gibt immer noch Übungen, die wir nicht kennen oder die uns so schwer fallen, dass wir konditionell keine fünf Minuten durchhalten würden", sagt Schmidt, der als männlicher Fahrer zu einer Minderheit gehört.
Ob die Kür bei den Erwachsenen so gut gelingt wie bei den Junioren, darüber wagen Schmidt und Dietrich keine Prognose. "Wir wissen nicht, was uns erwartet, also gehen wir ohne Druck in die Wettkämpfe." Wenn die Lenkerdrehung gelingt, stehen die Chancen aber gut, dass sie auch dort Titel gewinnen.