Kugelstoßen:Im Zeitraffer

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Ehrgeizig: Kugelstoßer Joel Akue. (Foto: imago images / Beautiful Sports)

Joel Akue, 17, hat erst vor einem Jahr mit seinem Sport begonnen. Seine Entwicklung ist erstaunlich.

Von Andreas Liebmann

Meister werden im Winter gemacht, heißt es, und gerade fühlt sich dieser Winter recht angenehm an. Die Abendsonne steht über dem Sportplatz des TSV München-Ost, es hat milde 20 Grad, noch zieht es also nicht frostig durch die kleinen Löcher, die sich auf Brusthöhe in Joel Akues blaues Trainingsshirt gerissen haben. Der 17-Jährige grinst. Er kann ganz gut damit leben, dass er ein Interview geben darf, während hinter ihm der Rest der erfolgreichen Werfergruppe, die zur LG Stadtwerke gehört, mit Turnreifen und Medizinbällen hantiert, Bewegungsabläufe einschleift und auf dem Boden die Bauchmuskeln trainiert.

Natürlich ist es noch gar nicht Winter. Doch obwohl sich in dieser seltsamen Leichtathletik-Saison die Besten gerade auf eine ungewöhnlich späte Weltmeisterschaft in Doha vorbereiten (27. September bis 6. Oktober), hat der große Rest alle Saisonhöhepunkte längst hinter sich und bereitet sich bereits auf das nächste Jahr vor.

Als Joel Akue vor ziemlich genau einem Jahr zum ersten Mal hierher kam, da war ihm nicht ganz so nach Grinsen zumute. Nichts war da mit Abendsonne, mit Interviews erst recht nicht. Ein Jahr lang hatte er keinen Sport mehr gemacht, auf Anraten seines Vaters hatte er sich dann aber doch aufgerappelt, um sich als Kugelstoßer zu probieren. Er platzte mitten ins harte Grundlagentraining für die kommende Saison. "Danach hat er sich erst mal eine Woche wegen Muskelschmerzen abgemeldet", erzählt Andreas Bücheler, einer der beiden Trainer. "Ich habe ihm gesagt: ,Wenn du das überlebst, werden wir auch was gewinnen.' Trotzdem hätte er da beinahe aufgehört." Kraftwerte habe Akue bis dahin "gar keine" gehabt.

"Ich bin noch nie so getriezt worden"

Das hat sich geändert, das sieht man dem 1,94 Meter großen Teenager auch ohne Löcher im T-Shirt an. Den schwierigen Start hat aber auch er noch sehr gut im Gedächtnis. Bis dahin hatte Akue, der in Ottobrunn wohnt, Mehrkampf im Leichtathletik-Förderzentrum (LFZ) gemacht, einem anderen zur LG Stadtwerke gehörenden Verein. Dann ging der Trainer, und Joel Akue zog sich eine schwere Knöchelverletzung zu, als er im Stabhochsprungtraining mit einem Fuß neben der Matte landete. Ihm sei schon klar gewesen, dass fürs Kugelstoßen "ein bisschen Kraft sicher nicht schadet", erzählt er, "aber dass es so heftig wird, hätte ich nicht gedacht". Alle seien an Rudergeräten gesessen, als er zum ersten Mal kam. "Eine Viertelstunde rudern, dann Fahrrad, Stepper, Kraftzirkel - das hat mich echt fertig gemacht. Ich bin noch nie so getriezt worden." Davon, eine Medaille bei deutschen Meisterschaften zu gewinnen, war er zu diesem Zeitpunkt etwa so weit entfernt wie Donald Trump von einer Ehrenmitgliedschaft bei Greenpeace, doch genau das (also: ersteres) ist zehn Monate später passiert. Akue wurde in Ulm Dritter der Altersklasse U18, mit dem Letzten Versuch verbesserte er seine Bestweite auf 19,02 Meter. "Damit war nicht zu rechnen", sagt Bücheler, auch wenn er natürlich um das Talent in Akue gewusst hatte; sogar schon viel früher, als er ihn erstmals angesprochen hatte, und als einem Disziplinwechsel vor allem im Wege stand, dass Akue freitags zu den Pfadfindern ging. "Auf 18 Meter hatten wir dieses Jahr gehofft." Nun hoffen sie, dass Joel Akue im nächsten Jahr, in dem die Kugel für ihn nicht mehr fünf, sondern sechs Kilo schwer sein wird, damit gleich genauso weit kommt.

Für Bücheler und den bayerischen Verbandspräsidenten Gerhard Neubauer, den zweiten Trainer der Gruppe, war die zurückliegende Saison nicht immer einfach. Selina Dantzler, ihre U-18-Weltmeisterin, die seit einem Jahr in den USA studiert, war nach einer Operation am Knie im Sommer "in einem verheerenden Zustand" zurückgekommen, sie habe kaum noch 13 Meter weit gestoßen und im Bankdrücken gerade mal 50 Kilogramm geschafft statt 107 wie früher. Bücheler fürchtet um das sportliche Weiterkommen dieses Riesentalents. Und auch ihre Nachwuchshoffnung Dominik Idzan, knapp ein Jahr jünger als Akue, schwächelte plötzlich. Wie sich erst spät herausstellte, lag es an der Schilddrüse. Akues rasante Fortschritte halfen dann auch den beiden Trainern ein bisschen über eine triste Phase hinweg.

Im Januar 2018 waren es 13 Meter - im Januar 2019 16,32 Meter

Bald wurde die ganze LG auf Akue aufmerksam. Geschäftsführer Christian Gadenne wurde hellhörig, als er mitbekam, dass dieser Kugelstoßer mit den erstaunlichen Resultaten auch einen Hochsprung-Bestwert von 1,84 Meter aufwies. Der Manager ist stets daran interessiert, dass es die Nachwuchssportler in möglichst vielen Disziplinen in Bestenlisten schaffen, denn das gibt Punkte für das alljährliche Vereinsranking des Deutschen Leichtathletik-Verbandes und damit Renommee fürs große Ganze. Also fragte er nach, ob es sich nicht einrichten ließe, dass der junge Mann mal einen Ausflug zu einem Hochsprung-Wettkampf macht - doch da konnte Bücheler sich ein Lachen schwer verkneifen. Jener Sprung sei nicht nur zwei Jahre her, sondern auch etwa 15 Kilogramm, die der Junge seit Frühjahr zugelegt habe. Was gut ist fürs Kugelstoßen, um der Wucht des Abwurfs standzuhalten - aber weniger, wenn man der Schwerkraft entschweben mag.

Im Januar 2018 hat Joel Akue, dessen Vater aus Togo stammt, noch 13 Meter weit gestoßen. Im Januar 2019 waren es 16,32 Meter. Anfangs habe er in Wettkämpfen "immer alles falsch gemacht", erzählt er, "keine Ahnung, wieso." Je besser er die Technik hinbekam, desto schneller ging es plötzlich voran. Beim Erzgebirgsmeeting in Gelenau gelang ihm im Juni ein Stoß auf 18,77 Meter, das war eine Verbesserung seiner Bestweite um 1,27 Meter. Und in Ulm habe dann alles gepasst. Auch sein Trainingskollege Idzan stieß nur drei Zentimeter kürzer und wurde Vierter, seine Schilddrüse ist nun richtig eingestellt. Die neue Saison darf für beide gerne bald kommen.

Sein Durchbruch, glaubt Akue, sei übrigens das vereinseigene Weihnachtskugelstoßen mit der ganzen Trainingsgruppe gewesen. Das war nach all der Schinderei der erste Wettkampf, der ihm halbwegs glückte. Sein Aufbruch ins Erfolgsjahr. Auch 2019 findet dieses Meeting statt, er freut sich schon. Dann ist es wirklich Winter.

© SZ vom 14.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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