Karate:Aus dem Westend nach Fernost

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Michaela und Joachim Rein kämpfen bei der WM im legendären Budokan

Von Thomas Becker, München

Unterschiedlicher können Wettkampfstätten kaum sein: hier die beschauliche Trainingshalle des SV 1880 München im Westend, dort das Nippon Budokan, die größte Kampfsporthalle der Welt mit Platz für 14 000 Zuschauer. Hier der schlichte Zweckbau in der Tübinger Straße, in dem auch Handballer, Boxer und noch ein paar andere Sportarten zu Hause sind, dort ein achteckiges Kunstwerk, das dem Höryü-ji-Tempel in der Weltkulturerbe-Stadt Nara nachgebildet ist und wo schon 1964 olympische Judo-Medaillen vergeben wurden. Pop- und Rockgrößen aus dem Westen nutzen die Halle gerne für Live-Gigs, auch die Beatles, Bob Dylan und Depeche Mode brachten die bekannt euphorischen japanischen Fans schon zum Kreischen. Genau hier werden Michaela und Joachim Rein an diesem Wochenende den bislang größten Wettkampf ihrer Karriere bestreiten. Ein Erlebnis, von dem sie wohl noch ihren Enkeln erzählen werden. Die Vorfreude bei beiden ist gewaltig: "Das Budokan! Das ist einfach der Wahnsinn!"

Die Rein-Geschwister sind die einzigen Münchner im deutschen Aufgebot für die Karate-WM in Tokio. Im vergangenen Jahr wurden sie Mannschafts-Europameister: Joachim, 22, im Kumite-Team der Junioren, seine große Schwester Michaela, 23, bei den Senioren. Kumite ist ein Mann-gegen-Mann-Wettkampf und bedeutet wörtlich übersetzt Begegnung der Hände, also kein Vollkontakt, keine Treffer an den Kopf. In Deutschland, wo Karate in den siebziger Jahren populär wurde, wird heute vor allem traditionelles japanisches Shotokan praktiziert, ein Stil, bei dem man in möglichst weiter Distanz zum Gegner kämpft, um den ganzen Körper wirksam einsetzen zu können.

Die Geschwister Rein sind mit diesem Sport aufgewachsen: "Wir waren eigentlich immer schon hier am Achtzger", erzählt Michaela, im richtigen Leben Lehramtsstudentin. Bruder Joachim, Polizist, ergänzt: "Unsere Eltern haben uns zum Karate mitgenommen, als wir sieben Jahre alt waren." Gerade dem Sohn musste zunächst ein wenig auf die Sprünge geholfen werden: Wenn er sich im Training ordentlich angestrengt hatte, gab's von der Mama als Belohnung zwei Euro. Heute quält er sich auch ohne Zuckerl fünf bis sechs Mal pro Woche, wie auch Schwester Michaela, die nebenbei auch noch Jugendleiterin ist und eine Kindergruppe betreut. Abteilungsleiter Sepp Kröll lobt die Reins in höchsten Tönen: "Die beiden sind die Aushängeschilder unseres Vereins, absolute Vorbilder für den Nachwuchs."

Geschwisterkampf: Sepp Kröll (Mitte, 5. Dan) ist beim SV 1880 seit Jahren Lehrmeister von Michaela und Joachim Rein. (Foto: Claus Schunk)

Ein Lob von Kröll hat Gewicht. Der Mittsechziger und ehemalige Nationalmannschaftskämpfer steht den etwa 300 Karateka des SV 1880 seit 41 Jahren vor - und ist seitdem fast jeden Tag in der Trainingshalle, allen gesundheitlichen Rückschlägen zum Trotz. Er besitzt den fünften Dan (die beiden Reins jeweils den zweiten), ist Präsident des deutsch-japanischen Karate-Verbandes sowie des rund 20 000 Mitglieder starken deutschen JKA-Karate-Bundes - und ein unermüdlicher Werber für seinen Sport: "Am Freitag beginnt wieder unser Anfängerkurs. Man kann aber jederzeit einsteigen."

Ausnahmsweise wird Kröll nicht mit dabei sein. Er begleitet seine beiden Vorzeige-Athleten nach Japan, ins Budokan, wo er vor vielen Jahren selbst schon gekämpft hat. Dojokun, die Verhaltensregeln der japanischen Kampfsportarten, hat Kröll über dem Stammtisch im Vereinsheim aufgehängt. Ein bisschen vergilbt steht da an der holzvertäfelten Wand: "Sei höflich und bescheiden. Vervollkommne deinen Charakter. Sei geduldig und beherrscht. Sei gerecht und hilfsbereit. Sei mutig." Kröll weiß, dass die beiden Reins dieses Mantra längst verinnerlicht haben. Michaela, die 2011 schon einmal WM-Bronze gewann, traut er trotz der erdrückenden Dominanz der Gastgeber abermals einen Podestplatz zu. Dabei ist sie eigentlich noch zu jung, sagt Kröll. Die geistige Reife werde erst mit Ende Zwanzig erreicht. Aber wenn alles perfekt läuft, könnte die Medaillensammlung der Familie Rein kostbarsten Zuwachs bekommen, denn: Viel mehr als eine WM-Medaille in Fernost geht für einen Karateka aus dem Westend eigentlich nicht.

© SZ vom 16.10.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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