Integration:Kellerkinder

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Muskelaufbau neben Ali: "Ich habe von Anfang an versucht, mit ihnen auch einen kleinen Deutschkurs zu machen", sagt Trainer Tim Yilmaz (knieend). (Foto: Claus Schunk)

Beim MTV München lernen unbegleitete minderjährige Flüchtlinge boxen - und mehr

Von Sebastian Winter, München

Im Vereinslokal läuft an diesem Sonntagabend Handball auf der Leinwand, EM-Finale, gleich sind die Deutschen Europameister. Die Gäste trinken Wein und essen Pasta al forno, die Spezialität des Hauses. Nichts deutet hier oben beim MTV München auf die kleine Schatzkammer hin, die verborgen in den verwinkelten Katakomben des traditionsreichen Vereins aus der Isarvorstadt liegt. Dort unten riecht man den Schweiß vieler Trainingseinheiten durch die offene Türe.

Etwa 20 Boxsäcke und Punchingbälle hängen von der Decke herab, hinten im Eck ist der Ring, an den Säulen und Wänden kleben Plakate von Boxlegenden und ihren Kämpfen, Max Schmeling gegen Joe Louis, Tyson gegen Holyfield, Muhammad Ali gegen den Rest der Welt. Neben ihnen: Pamela Anderson, nicht ganz zugeknöpft. Der Box-Keller, der einst eine Kegelbahn war, erfüllt also alle Klischees. Klischees, an die sich Rewas, 17, und die anderen zehn jungen Männer, die gerade dort trainieren, erst einmal gewöhnen mussten. Denn sie sind, wie das auf Amtsdeutsch heißt, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, Afghanen wie Rewas, ein sehr freundlicher Junge mit langen dunklen Haaren, der dem Besucherzur Begrüßung die Hand gibt, Eritreer, Gambier, Somalier und zwei Jungen aus dem Iran, alle zwischen 15 und 17 Jahre alt. Sie fahren mittlerweile selbständig mit der S- und U-Bahn aus Ottobrunn zum MTV, anfangs hatten sie Betreuer der Inneren Mission begleitet.

Die Jugendlichen, deren Eltern und Geschwister im besten Fall noch in der Heimat und im schlimmsten Fall nicht mehr leben, sind nicht hier, um Boxen zu lernen, jedenfalls nicht nur. Der Keller ist für sie Schutzraum und Schule zugleich: "Ich habe von Anfang an versucht, mit ihnen auch einen kleinen Deutschkurs zu machen", sagt Tim Yilmaz.

Der 36-Jährige trägt Vollbart, Wollmütze, Trainingshose und ein weißes T-Shirt, früher stand er im Finale der oberbayerischen Meisterschaften, seit acht Jahren ist er Trainer beim MTV. Und leitet seit Ende November diese außergewöhnliche Gruppe an, zunächst bis Ende Februar. Eigentlich hat Yilmaz keine Zeit, der Geologe ist gerade Vater geworden, er hat außerdem einen Fulltime-Job. Und nimmt sie sich trotzdem, "die Jungs bringen so eine gute Energie mit, sie fragen mich schon, ob sie nicht öfter trainieren können". Yilmaz, der auch schon für die Krebsstation der Haunerschen Kinderklinik Spendenläufe organisiert hat, und sein Bekannter Florian Wurzer, Gründer des Vereins Charity meets Challenge, hatten die Idee zu dem Projekt. Bei Oliver Sawitzki, dem Box-Abteilungsleiter und stellvertretenden Vorsitzenden des MTV, stießen sie auf offene Ohren. "Das war alles Neuland für uns, aber irgendwann entschieden wir, das jetzt einfach zu machen", sagt Sawitzki: "Der nächste Schritt ist, sie ins normale Training zu integrieren." Ideen, wie die Mitgliedschaft finanziert werden soll, gibt es, zum Beispiel Patenschaften.

Yilmaz legt an diesem Abend viel Wert auf Krafttraining, die Jugendlichen liegen auf dem Boden, stützen sich auf den Ellbogen ab und stählen ihre Bauchmuskeln. Zwischendurch ziehen sie die Handschuhe an und dreschen konzentriert auf die Boxsäcke ein. Sie hören aufmerksam zu, wenn ihnen Yilmaz Worte wie Körper, Kopf, Haken, Bewegung oder einfach nur "Los geht's" an den Kopf wirft, danach reden die, die sich in ihrer Heimatsprache verständigen können, aufgeregt durcheinander. "Ich wusste ja auch nicht, was mich erwartet, anfangs habe ich mit Händen und Füßen kommuniziert", sagt Yilmaz: "Mittlerweile klappt das ganz gut."

Er war ganz erstaunt, wie gut die Stimmung auch untereinander ist, zwischen Sunniten und Schiiten, zwischen Paschtunen und Tadschiken. Aber zwei sind auch schon abgesprungen. Einer trainiert barfuß in Jeans. Letzteres hat Yilmaz ein bisschen schockiert. Wenn er sie nach ihrer Lebensgeschichte fragt, verstummen viele. Einer der Flüchtlinge hat wohl seine Geschwister und die Eltern verloren, ein anderer hat Narben am rechten Arm. Welche inneren Verletzungen die Jungen mit sich tragen, wissen nur sie selbst. Rewas' Familie ist noch in Afghanistan, er vermisst sie. Wann er sie wiedersieht, weiß er nicht.

Sie alle bereiten sich gerade auf die Berufsschule vor, die, die schon länger hier sind, können inzwischen gut Deutsch. Einer will Werkzeugmacher werden, der andere KFZ-Mechaniker, ein Dritter studieren. Rewas möchte Friseur lernen. Am Ende fragt ihn Tim Yilmaz: "War es gut heute?" "Ja", antwortet Rewas, seine Augen strahlen. Er möchte weiterboxen, wie fast alle hier.

© SZ vom 06.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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