Eishockey:Schmerzhafter Selbsterfahrungstrip

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Trotz des ersten Hattricks in der Karriere von Derek Joslin reichte es für München am Sonntag nicht zum zehnten Sieg nacheinander. (Foto: Zink/Imago)

"Zwei Drittel lang waren wir super": Nach dem wilden 5:6 in Nürnberg steht der EHC München irritiert vor den Trümmern einer Vier-Tore-Führung. Was zwischen der 37. Minute und der zweiten Minute der Verlängerung passierte, dafür hat der Tabellenführer selbst keine Erklärung

Von Christian Bernhard

Klar stand Derek Joslin noch auf dem Eis vor den TV-Mikrofonen, wann schießt ein Verteidiger schon mal drei Tore in einem Spiel - noch dazu in jenem Eisstadion, das bis vor wenigen Monaten noch seine Heimstätte war? Joslin stand also da, aber weder war er euphorisch, noch lächelte er. Sein Gesicht war versteinert, als er sagte, er könne nicht erklären, was da am Ende passiert sei.

5:1 hatte der EHC Red Bull München am Sonntagnachmittag im Spitzenspiel der Deutschen Eishockey Liga (DEL) in Nürnberg geführt, der Meister und souveräne Spitzenreiter schien den Tabellen-Zweiten völlig im Griff zu haben, der zehnte Sieg in Serie nur noch eine Formalität. Der Vorsprung auf die Verfolger war in diesem Moment, kurz vor Ende des zweiten Drittels, auf zwölf Punkte angewachsen - die DEL schien eine One-Team-Show zu werden. Doch dann kamen 25 Minuten, in denen Nürnberg fünf Treffer erzielte und der EHC keinen. Endstand: 6:5 nach Verlängerung für die Franken. Der EHC ist zwar immer noch souveräner Spitzenreiter, der Vorsprung beträgt trotz der Niederlage komfortable acht Punkte. Doch dieser verrückte Nachmittag könnte Spuren hinterlassen haben. "Wir haben heute eine Lektion gelernt", sagte EHC-Trainer Don Jackson. "Und wir haben auch ein paar Dinge über unsere Mannschaft gelernt."

Der EHC spielte an diesem denkwürdigen Sonntagnachmittag eigentlich gleich zwei Spiele. Eines bis zur 37. Minute, und eines von Minute 37 bis 62. Im ersten überstand er trotz einiger Probleme, die ihm das abwartende Nürnberger Spiel und die daraus resultierenden Konter bereiteten, das Startdrittel, in dem er dank Joslin (13.) den frühen Rückstand durch Leo Pföderl egalisierte (4.). Im zweiten Drittel klappte alles. Joslin traf weitere zwei Mal (22., 32.), der lange verletzte und in dieser Zeit schwer vermisste Steve Pinizzotto sammelte seine Scorerpunkte Nummer zwei, drei und vier des Tages und Jerome Flaake drückte die Scheibe zum 5:1 über die Linie. Selbst das Münchner Überzahlspiel, das bis dahin statistisch gesehen schlechteste der Liga, steuerte zwei Treffer bei. Das alles geschah bis zur 37. Minute. "München hat das Momentum im ersten Drittel aufgenommen und im zweiten Drittel in Tore umgemünzt", sagte Ice-Tigers-Trainer Rob Wilson. "Zwei Drittel lang waren wir eigentlich super", sagte EHC-Verteidiger Konrad Abeltshauser, Flaake fand, der EHC habe die Nürnberger in dieser Phase "an die Wand" gespielt.

Das zweite Spiel, das danach begann, hatte mit dem ersten wenig bis nichts zu tun. "Im dritten Drittel ist leider alles den Bach runter gegangen", sagte Abeltshauser. "Wir haben im letzten Drittel den Faden verloren und nicht mehr mit Selbstvertrauen gespielt", sagte Flaake. Es passte zu diesem außergewöhnlichen Eishockey-Nachmittag, dass in Jochen Reimer ein ehemaliger Münchner die Trennlinie zwischen den in jeder Hinsicht ungleichen Spielhälften zog. Der Nürnberger Torhüter war nach dem Münchner 5:1 urplötzlich, wie von der Tarantel gestochen, in die EHC-Jubeltraube gesprungen und hatte versucht, Pinizzotto an den Kragen zu gehen. Laut Nürnbergs Kapitän Patrick Reimer, Jochens älterem Bruder, hatte Pinizzotto nach Flaakes Treffer dem Torhüter ein paar Worte mitgegeben - das wollte der Goalie anscheinend nicht auf sich sitzen lassen. Reimer kassierte eine Zwei-Minuten-Strafe für seine Aktion und blieb in der zweiten Drittelpause in der Kabine; fortan hütete Andreas Jenike das Nürnberger Tor. Reimers Wutausbruch hatte die Ice Tigers aber aufgerüttelt. Auf der Ehrenrunde, die sich Nürnberg durch Treffer von Jesse Blacker (42., 45., 62.), Marco Pfleger (39.) und Andrew Kozek (53.) verdient hatte, war Jochen Reimer wieder auf dem Eis und klatschte dem Publikum zu.

Die EHC-Profis waren zu diesem Zeitpunkt bereits mit der Aufarbeitung der Partie beschäftigt. Die Niederlage schmerze "sehr, weil wir einen guten Rhythmus hatten", sagte Maximilian Kastner und fügte an: "Wir sind selbst schuld daran, das hätte überhaupt nicht sein müssen." Nun gehe es darum, den Schmerz zu lindern und das letzte Drittel "schnell" zu vergessen.

Joslin, der trotz seines ersten Karriere-Hattricks unglückliche Verteidiger, reagierte trotzig auf seine Enttäuschung: "Wir müssen eine neue Serie starten." Zeit sich Gedanken zu machen, hat der EHC nun allemal: Am Freitag sind die Münchner spielfrei. Am Sonntag tritt das Team von Don Jackson dann beim Tabellen-Dritten Mannheim an. Die Adler haben zuletzt vier Mal in Serie gewonnen.

© SZ vom 29.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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