Behindertensport:Der Mann nebendran

Lesezeit: 3 min

"Das ist eine Umstellung, wenn man plötzlich alles für den anderen tut": Begleitläufer Rafael Marks (li., hier mit Sebastian Roob) muss viel trainieren. (Foto: Rafael Marks)

Rafael Marks trainiert und begleitet sehbehinderte Läufer. Zwei sind ihm schon zu schnell geworden, sie wollen zu den Paralympics

Von Johannes Kirchmeier, München

Wenn Rafael Marks läuft, dann ist er nie allein. Seine Hand ist mit einem Schnürsenkel an die Hand eines Nebenmanns gebunden. Er klingt wie ein Paartherapeut, wenn er erklärt, was er da tut: Am wichtigsten sei das Vertrauen, sagt der 25-Jährige: "Fehlt das Vertrauen, bildet sich keine Einheit. Es funktioniert aber nur als Einheit." Marks ist kein Paartherapeut, sondern ein Begleitläufer. Er trainiert und begleitet sehbehinderte Leichtathleten, seit fünf Jahren schon.

Marks hat sich einen Kaffee gekauft und setzt sich auf einen der modernen weißen Stühle an einem der weißen Säulentische im Stucafé an der Leopoldstraße. Seine magentafarbene Brille bildet einen frischen Farbtupfer hier. Neben ihm unterhalten sich Studenten vor aufgeklappten Laptops, mit ihren Fingern streichen sie über Smartphones, trinken Cappuccino und Latte Macchiato. Marks, Gel in den Haaren, Dreitagebart, kommt gerade aus dem gegenüberliegenden rosa Gebäude, Fakultät für Psychologie und Pädagogik, auch Schweinchenbau genannt.

Wenn der Sonderpädagogik-Student von Einheit spricht, meint er die zwischen ihm und seinen sehbehinderten Laufpartnern. Links läuft der Athlet, rechts Marks. Ganz eng sind sie verbunden, Handrücken an Handrücken: "Ich spüre den Athleten richtig, merke jede Regung, wie er atmet. Das ist nicht nur Nebenherlaufen bei uns", erzählt er. Marks navigiert durch die Kurven, feuert an, wenn er spürt, dass die Beine des Nebenmanns schwerer werden.

Auf dem Tisch deutet er mit seinen Zeige- und Mittelfingern die jeweils linken und rechten Beine an. Beim Fingerlauf wird klar: Beide Athleten sprinten seitenverkehrt. Hebt Marks sein linkes Bein, hebt der Athlet das rechte. Die zusammengebundenen Arme müssen ja gleichzeitig vor- und wieder zurückschwingen.

Marks richtet sich nicht nur nach der Schrittfolge seines Athleten. Als Begleitläufer muss er sich dauernd anpassen, er ist Dienstleister. So wie ein Fahrlehrer einen Menschen zum Führerschein begleiten darf, so darf Marks einen sehbehinderten Läufer zum Jubeln führen - wenn alles passt. Mehr aber auch nicht. "Lange Zeit ist mir das schwer gefallen", sagt er, die Stirn in Falten. "Vor allem, wenn ich eine bessere Zeit laufen konnte."

Besonders in Phasen, in denen der Athlet Rückschläge erlebt oder seine Entwicklung stagniert, muss das Vertrauen intakt bleiben. Das gelingt nicht immer: "Ich habe Leute erlebt, die nicht mehr mitlaufen konnten, weil es manchmal einfach nicht so schnell vorwärts geht." Eines eint ja die Begleitläufer: Sie hätten auch eine eigene Karriere starten können. Aber plötzlich sind sie nur noch der Mann nebendran.

Und das, obwohl Leichtathleten eigentlich Einzelkämpfer sind: "Das ist eine Umstellung, wenn man plötzlich alles für den anderen tut." Er beugt sich über den Tisch und sagt, etwas gegenläufig zu seiner Bewegung: "Man muss sich zurücknehmen können." Der gebürtige Freiburger lief in der Jugend auf Sportfesten über 800 Meter, wegen Knieproblemen musste er aufhören. Für den Behindertensport stieg er wieder ein. Trainieren muss er erneut viel. Denn die Zeiten bei den Paralympics gleichen sich immer mehr denen an, die bei Olympischen Sommerspielen gelaufen werden. Was für die Begleitläufer heißt: Sie müssen schneller werden.

Zwei seiner Athleten sind Marks sogar zu flink. Jahrelang bildete er eine Einheit mit den sehbehinderten Läufern Sebastian Roob, 19, und Christoph Sailer, 21, beim PSV München. "Dann sind mir die Jungs zu schnell geworden", sagt er mit einem Lächeln. Er ist ja auch ihr Trainer - und als solcher ganz glücklich darüber. Am Sonntag gewannen die beiden im Dantestadion Gold und Silber bei den bayerischen Meisterschaften über 100 und 200 Meter in ihrer Altersklasse. Statt Marks laufen Begleiter aus Halle an der Saale neben Roob und Sailer. Er trainiert sie an sechs Tagen in der Woche. Sie üben intensiv für ihren paralympischen Traum. Im Sommer wollen sie nach Rio de Janeiro. "Es wird eine knappe Angelegenheit", sagt Marks nachdenklich. In den nächsten Wochen müssen sie sich steigern.

Rafael Marks geht es nicht nur um Medaillen und Erfolge: "Mir geht es um den Menschen an sich. Mich freut es, wenn ich sehe, dass er etwas mitnimmt fürs Leben und selbstbewusst wird." Man merkt ihm an, dass bald ein Lehrer aus ihm wird. Für seine Athleten könnte das zum Problem werden. Im September, während der Paralympics, beginnt Marks' Referendariat. Irgendwo in Bayern, vielleicht in Aschaffenburg oder Hof. Dann könnte er nicht mehr sechsmal pro Woche auf dem Trainingsplatz des PSV München stehen. "Es kann genauso gut sein, dass ich bald in München arbeite", sagt Marks. Auch Zuversicht ist wichtig.

© SZ vom 16.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: