Basketball:Zweite Liebe

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"Ich bin gerne groß": Mit knapp zwei Metern zieht Anastasia Riabchenko in der Öffentlichkeit sehr viele Blicke auf sich. (Foto: Claus Schunk)

Anastasia Riabchenko ist die wohl größte Basketballerin in Deutschland. Den Sprung in die WNBA schaffte sie nicht, darum ist zurück beim MTV München.

Von Andreas Liebmann, München

Sie sah die Frau schon von weitem, wie sie sich mühsam über das Sportgelände am Hirschanger quälte. Festen Willens, ein Leben zu verändern. "Sie hatte ihr Ziel im Visier", erinnert sich Anastasia Riabchenko, die erst allmählich ahnte, dass sie selbst dieses Ziel sein könnte. Jene Frau, eine ehemalige Basketball-Nationalspielerin namens Doris Schuck, kam trotz ihrer damals kaputten Hüfte geradewegs auf sie zugewackelt wie eine Verdurstende auf eine Fata Morgana. Sie hatte eine Vision.

Was die Frau gesehen hatte, war leicht zu erahnen: Eine ganze Schulklasse stand dort aufgereiht, einer nach dem anderen sollte versuchen, einen Baseball zu treffen. Alle Köpfe waren in einer Reihe - nur einer nicht, denn Anastasia Riabchenko überragte alle. Schucks langer Weg war zunächst vergeblich, denn auf die Frage, ob es nicht in ihr Basketballtraining kommen wolle, antwortete das große Mädchen, dass es lieber Volleyball spiele. Doch Schuck ließ nicht mehr locker, und als die junge Volleyballerin merkte, dass sie zu gut geworden war für die Ambitionen ihres Vereins Hertha München, tauchte sie eines Tages doch im Basketballtraining des MTV München auf. 15 war sie da. "Seitdem begleitet mich die liebe Frau Schuck durch mein Basketballleben", sagt Riabchenko und lacht.

Zehn Jahre danach sitzt sie in einem kleinen Lokal am Sendlinger Tor auf einem Barhocker und zieht wie immer die Blicke auf sich. Die langen blonden Haare nach hinten gesteckt, goldene Ohrreifen, dunkelrot lackierte Fingernägel, den Oberkörper kerzengerade durchgedrückt. 1,98 Meter ist Riabchenko groß, ihre Augen strahlen, während sie von sich erzählt, nur einmal starrt sie versonnen in ihre Latte Macchiato, als könne sie dort eine Antwort finden. "Das ist eine der schwierigsten Fragen", sagt sie dann lächelnd. Die Frage lautete, wieso sie eigentlich bis heute für den Drittligisten MTV München spielt.

Rebounds sind nicht ihre Stärke. Wieso, das weiß die 1,98 Meter lange Riabchenko selbst nicht

Vor einem Jahr ist der MTV aufgestiegen in die Regionalliga, ungeschlagen. Riabchenko erzielte 343 Punkte, hundert mehr als die zweitbeste Werferin der Bayernliga. Auch in der aktuellen Saison führt sie die Statistik an, mit 313 Punkten nach 18 Spielen. In beiden Ligen war sie die Größte, auch in der ersten und zweiten Bundesliga wäre sie das. "Ich weiß nicht, ob es in Deutschland überhaupt eine Basketballerin gibt, die größer ist als ich", sagt sie. Ihr Team aber hat es schwer zurzeit, aktuell ist es Viertletzter, ein bis drei Absteiger wird es wohl geben. Zwei Heimniederlagen hat der MTV am vergangenen Wochenende kassiert, 51:73 ("Katastrophe") gegen die Leipzig Lakers, 68:95 gegen Tabellenführer Marktheidenfeld. An diesem Samstag (16.45 Uhr) gastiert Riabchenkos Team beim Nachbarn München Basket, der mit zwei Punkten mehr schon halbwegs gesichert sein dürfte. Ganze sieben Spielerinnen hat der MTV nach einer Verletzungsserie übrig, das reicht noch für eine ordentliche Offense - die Defense ist die schlechteste der Liga. Auch Riabchenko kann daran nichts ändern. Vorne macht sie ihre Punkte, im Rückwärtsfallen ("fade away") und mit Hakenwürfen ("hook shots"), "dafür hassen mich die meisten". Denn beides ist gegen ihre Größe kaum zu verteidigen. Doch oft ist sie zu ausgepumpt, um viel nach hinten zu arbeiten, und Rebounds, sagt Abteilungsleiter Laszlo Baierle, sind "leider nicht die Stärke von Anastasia". Wieso, weiß die 25-Jährige selbst nicht.

Irgendwo in ihrer Latte Macchiato hat sie eine Antwort gefunden. "Doris hatte immer den Traum, mit ihrer Mannschaft höherklassig zu spielen", erklärt sie. Als sie selbst 2015 nach vier Jahren aus den USA zurückkam, "hatte ich das Gefühl, dass ich es Doris schulde, ihren Traum zu verwirklichen". Also stieg sie wieder beim MTV ein.

Es ist nicht auszuschließen, dass sie dort noch lange bleibt. Sie ist in München heimisch geworden, seit sie als Sechsjährige mit ihren Eltern, ehemals ein Boxer und eine Siebenkämpferin, aus Kirgistan kam. Sie hat hier einen Job als Personalberaterin gefunden, der ihr viel Spaß bereitet. Aber es ist auch nicht auszuschließen, dass sie ein höherklassiges Angebot annimmt. Ambitionen hatte sie immer, versichert sie. Und Angebote? "Es stehen viele Türen offen", sagt sie. Ihr amüsierter Blick bedeutet wohl eher: Selbstverständlich, dämliche Frage. "Die hatte ich schon, als ich zum ersten Mal den Ball in der Hand hatte, allein wegen der Größe", erklärt sie. "Ganz egal, dass ich da noch mit beiden Händen werfen und mit beiden Beinen zum Korbleger springen wollte." Wie man es eben macht, wenn man gerade frisch vom Volleyball kommt. "Volleyball war meine erste große Liebe", schwärmt sie, "ein toller Sport. Ich schaue immer noch gerne zu und halte bei Ballwechseln den Atem an."

In den USA verknüpft sie Sport und Studium. Zugleich plagt sie Heimweh - und eine Verletzung

Viele Tränen habe sie anfangs im Basketballtraining vergossen, der Wechsel hatte sie Überwindung gekostet. Dennoch dauerte es nur einige Monate, bis der Erstligist TSV Wasserburg anklopfte, und keine vier Jahre, bis sie bei der U-20-Europameisterschaft für Deutschland spielte.

Dann ging Anastasia Riabchenko einen steinigen Weg. In die USA, wo sie die Schule beendete und Betriebswirtschaftslehre studierte. Sie hatte ein Sportstipendium erhalten, irgendeine Trainerin aus Illinois hatte sie so oft per E-Mail kontaktiert, bis sie zusagte, anstatt ein Angebot aus Marburg anzunehmen. Im August zog sie um, im Oktober habe sie "so unglaubliches Heimweh gehabt", dass sie im Training losheulte. "Ich bin dort in kürzester Zeit erwachsen geworden", sagt sie - das war das Gute. Doch es gab Tiefpunkte. Sie musste mit einer schweren Knöchelverletzung spielen, im dritten Jahr hatte sie einen Trainer, der nichts mit ihr anzufangen wusste. Als sie irgendwann ein Probetraining vor Agenten mit Kontakten in die Profiliga WNBA hatte, die Trainerin Schuck ihr zugetraut hätte, da sei sie schon "fertig mit Amerika" gewesen. In dieser Zeit, sagt sie, "war Basketball für mich nur Mittel zum Zweck". Er finanzierte ihr Studium.

Es gäbe viel, was Riabchenko noch lernen könnte. Wegen ihrer Länge spielte sie nie etwas anderes als Center, daher sei ihr nie ein gutes Ballhandling beigebracht worden. "Ich würde gerne dribbeln lernen, das wäre eine Bereicherung für die Basketball-Welt", sagt sie augenzwinkernd. Sie ist keine typische Centerin, sie läuft gerne Fastbreaks. Seit dieser Saison traut sie sich an Dreierwürfe heran, zehn hat sie schon getroffen. Aber vielleicht höre sie ja auch ganz auf mit Basketball, wer wisse das schon. Sie meint das nicht ernst, aber gegen Ende jeder Saison, wenn die Knochen schmerzen, komme ihr dieser Gedanke.

Basketball ist ihre zweite große Liebe. Um mit ihrer Größe klarzukommen, braucht sie ihn aber nicht. Sie geht auch so sehr selbstbewusst mit ihrer Ausnahmeerscheinung um. "Man muss mit dem vorhandenen Material arbeiten", sagt sie lapidar. "Ich bin gerne groß." Sie finde es traurig, wenn große Frauen versuchten, sich zu verstecken. Riabchenko gelänge das auch nicht, wenn sie es versuchen würde. Als sie sich vom Hocker erhebt und das Lokal verlässt, kerzengerade, verfolgen sie wieder einige Blicke.

© SZ vom 04.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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