Siedlung Ludwigsfeld:Warten auf die Wende

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Die Bewohner der Siedlung Ludwigsfeld leiden seit Jahrzehnten unter dem hohen Verkehrsaufkommen. Im Verkehrskonzept der Stadt kommt das Viertel nicht vor, der Bau einer Umgehungs-Route verzögert sich

Von Simon Schramm, Siedlung Ludwigsfeld

Es ist das Verhängnis, das nahezu alle Viertel im Münchner Norden betrifft: Starke Gewerbe- und Industriestandpunkte sichern Arbeit und Investitionen, verstärken aber auch den Verkehr. Nun wird das Aufkommen bekanntlich erheblich wachsen, weshalb die Stadt ein Konzept erstellt hat, um den Verkehrsfluss auch im Detail zu optimieren. Wer erfahren möchte, wie direkt ein Viertel am Verkehr leidet und wie notwendig solche Verbesserungen auch in der Peripherie sind, der sollte sich in die Siedlung Ludwigsfeld begeben, zum Beispiel in die Kristallstraße; am besten zur werktäglichen Stoßzeit um 16 Uhr.

Der Linienbus und das Auto fahren aufeinander zu wie beim "Chicken Game", dann bremsen sie ab, jetzt stehen sie Schnauze an Schnauze, zunächst reagiert keiner. Beide können nicht ausweichen: Um links auf den Gehweg zu fahren ist es zu spät, zumal das verboten ist, auf der rechten Straßenseite parken Autos. Schließlich muss der Autofahrer rückwärts fahren, der Bus zieht durch. Kurz danach die gleiche Situation mit zwei Pkw, ein Motorradfahrer möchte nicht abwarten und brettert den Gehweg entlang. "Einmal hat mich ein Auto von hinten angefahren, als ich auf dem Gehweg war", sagt Andrea Ferstl (Name geändert), Mitte 30, Anwohnerin der Straße. "Der ist mir über die Zehen gefahren und einfach weiter."

Zwei Laster donnern durch die Straße, bei manchen Fahrzeugen bezweifeln die Bewohner, ob die Autos sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung von 30 Kilometer pro Stunde halten. "Auf der Autobahn geht jetzt gar nichts mehr", sagt Peter Hitzler, 71, der ebenfalls in der Kristallstraße wohnt. Schon nach wenigen Minuten Aufenthalt ist klar: Die Anwohner der Wohnsiedlung leiden unter dem massiven Verkehr unmittelbar vor ihrer Haustür. "So geht das täglich, jeden Nachmittag", sagt Andrea Ferstl.

Diesmal wartet der Busfahrer. Der Pkw fährt gemächlich in seine Richtung, hinter dem Bus stauen sich bereits drei weitere Autos, wieder besteht in der Straße das Flaschenhalsproblem. Hitzler und Ferstl zufolge ist die Situation am Morgen genauso. "Die Fenster sind nach wenigen Tagen so schmutzig, die muss man alle zwei Wochen neu putzen", sagt Ferstl. "Bei meiner Frau haben sie den Autospiegel abgefahren", berichtet Peter Hitzler. "Ich wohne seit über 25 Jahren in der Siedlung", sagt er. "Seitdem gibt es das Problem, und es ist nur schlimmer geworden. Und es passiert nix."

Nicht nur dem Autobahn-Verkehr ist die Kristallstraße als Durchfahrt wohlbekannt. Etwa das Gewerbe im Umkreis der Siedlung, das von der Dachauer zur Karlsfelder Straße gelangen möchte. "Wenn die Anhänger ohne Last fahren, ist das noch lauter. Es ist furchtbar", sagt Hitzler. Tagsüber habe er die Fenster offen, aber in der Nacht gehe das nicht mehr. Der Lärm der Laster sei zu laut, um zu schlafen. Ein Teil des Verkehrs gehört auch zum Testgelände von MAN, das sich gegenüber der Siedlung befindet. Seit einiger Zeit kommt zusätzlicher Lkw-Verkehr: Auf einem Gelände im Osten der Siedlung befindet sich ein Areal, das ungenehmigt als Auto-Werkstatt und Schrottplatz benutzt wird. Viele Autos benutzen ausgerechnet den Areal-Zugang, der über die Granatstraße in der Siedlung verläuft.

Vielleicht stellt auch der geschichtliche Hintergrund der Siedlung eine Ursache für die Verkehrsprobleme dar: Der Standort war während des Zweiten Weltkriegs ein Außenlager des Konzentrationslagers Dachau. Stadtteilhistoriker Klaus Mai vermutet, dass die Abgeschiedenheit auch bewusst gewählt wurde. Aus dem ehemaligen Lager ist eine Gemeinschaft entstanden, die nun zwischen Autobahn und Gewerbe eine Art Insel-Dasein fristet. Wegen der schlechten Anbindung benutzen viele Ludwigsfelder selbst ein Auto.

Wie ist der Siedlung zu helfen? Im Dezember vergangenen Jahres erklärte das Planungsreferat dem Bezirksausschuss, dass eine Einbahnregelung in der Kristallstraße nur zur Umschichtung des Verkehrs beitragen würde. Zudem verweist das Planungsreferat in seiner Antwort genau auf die vermeintliche Umgehungsroute, deren Ausbau schon seit den Achtzigerjahren geplant ist: die Karlsfelder Straße. Derzeit verläuft sie nördlich der Siedlung und mündet in eine Wohnanlage; dort wird die Straße eng und kurvig, weshalb viele Lkw diesen Verlauf meiden.

2004 schloss MAN mit der Stadt einen Vertrag, wonach das Unternehmen den neuen Trassenbau finanziert, aber der Bau wurde immer wieder verschoben. Der neue Verlauf über eine Fläche südlich der Wohnanlage würde die Verbindung von der Dachauer zur Karlsfelder Straße vereinfachen. Der Bebauungsplan von 2013 bestätigt den Verkehrszuwachs, der Verkehr auf der Karlsfelder lag damals bei 8000 bis 10 000 Autos pro Tag. Bloß hängt der Ausbau immer noch in der Schwebe, weil sich MAN in einem Rechtsstreit mit dem Eigentümer der Fläche befindet. MAN plant auch den Bau eines Parkhauses, der Eigentümer der Wohnanlage ist nicht mit den Unternehmens-Vorstellungen zufrieden. Ein Ende des Rechtsstreits sei derzeit nicht abzusehen, sagt ein Firmensprecher. "Solange dies nicht geklärt ist, passiert auch nichts." Eine Planänderung sei MAN nicht bekannt.

Nun ist die Belastung der Kristallstraße nicht das einzige Verkehrsproblem, das in der Siedlung für Ärger sorgt. Dass es auf den Straßen eng zugeht, liegt auch an den fehlenden Stellplätzen: Die Autos müssen darum eben auf der Straße oder zum Teil auf dem Gehweg stehen. Teilweise besetzen Autos ohne Nummernschild die Parkplätze, oft stellen die Fahrer ihre mitunter mächtigen Lastwagen einfach ab und nehmen gleich zwei bis drei Plätze weg; "wie die wieder rauskommen wollen, weiß ich auch nicht", sagt Andreas Ferstl.

Viele Bewohner sind zum Wildparken gezwungen oder stellen ihr Fahrzeug im Umkreis ab. Es ist schwierig, im eigentlich überschaubaren Viertel neue Flächen für Parkplätze zu finden. Bisher hat die Patrizia, Eigentümerin eines Großteils der Siedlung, einen neuen Parkplatz eingerichtet. Ein favorisierter Ort, ein wildwüchsiges Gebiet nahe der Karlsfelder Straße, stellte sich als Biotop heraus - die Untere Naturschutzbehörde untersagt darum eine Nutzung. Derzeit untersucht die Lokalbaukommission, wie hoch der Bedarf an Stellplätzen in der Siedlung wirklich ist.

"Wir glauben das nicht mehr, dass sich etwas ändert", sagt Peter Hitzler. Andrea Ferstl schickt hinterher: "Erst wenn die Bagger kommen, glaube ich, dass etwas passiert." In der Siedlung Ludwigsfeld haben viele längst resigniert: Zu lange schon warten die Bewohner auf eine Verbesserung. Im neuen Verkehrskonzept kommt die Siedlung wieder nicht vor.

© SZ vom 08.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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