Sicht der Anwohner:Grabenkämpfe

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Haidhausen ist schön und liegt zentral: Wer im Viertel lebt, braucht eher das Rad als die S-Bahn. Ist es fair, dass ausgerechnet hier die Anwohner die Baustellen für den neuen Tunnel abbekommen?

Von Johannes Korsche

Twyla Dawn Weixl sitzt auf einer Bank in den Maximiliansanlagen. Die Sonne scheint durch das Blätterdach - ein Idyll inmitten der hektischen Großstadt. Sie genießt die Ruhe und strickt. "Ich bin jeden Sommerabend hier gewesen", sagt sie. Als sie hört, dass direkt hinter ihr, auf der Sportanlage westlich der Inneren Wiener Straße, von 2018 an Bauarbeiter wegen der zweiten Stammstrecke die Erde aufreißen, ist sie nicht mehr so entspannt. Die Stricknadeln kreisen jetzt schneller. Weixl wohnt seit vierzig Jahren in Haidhausen, an der Wörthstraße. Zur Arbeit fährt sie mit dem Fahrrad oder der Trambahn, die S-Bahn benutzt sie selten. Trotzdem werden sie die Baustellen im Viertel täglich einschränken. Das stete Klacken der Stricknadeln hört kurz auf. "Es war immer so ruhig hier", sagt sie mit Wehmut in der Stimme. Wie so viele Haidhauser befürchtet sie, dass das Viertel in den kommenden Jahren an Lebensqualität einbüßt.

Seit vergangener Woche ist die zweite S-Bahn-Stammstrecke beschlossene Sache. Und damit auch, dass die Haidhauser in den kommenden Jahren einige Baustellen ertragen müssen. Denn für die in etwa zehn Kilometer lange Strecke zwischen den Bahnhöfen Laim im Westen und Leuchtenbergring im Osten werden zwei neue Gleise gebaut, die kurz vor der Donnersbergerbrücke in getrennten Röhren unterirdisch verlaufen sollen. Am Leuchtenbergring führt die neue Trasse wieder an die Oberfläche. Für den Tunnel wird von 2018 an in Haidhausen gearbeitet, an vier Orten in offener Bauweise. Am Haidenauplatz soll auf Höhe des alten Zollgebäudes etwa fünfeinhalb Jahre, am Orleansplatz sieben, in den Maximiliansanlagen vier und an einem kleinen Platz an der Milchstraße zweieinhalb Jahre gebaut werden. 2026 soll der neue Tunnel in Betrieb gehen. Das bayerische Kabinett rechnet mit Investitionen in Höhe von rund 3,2 Milliarden Euro; Kritiker dagegen mit knapp 4 Milliarden Euro.

Platz an der Milch-, Keller- und Püttrichstraße: In der Mitte steht ein Baum. Noch. Bald entsteht hier ein 30 Meter tiefer S-Bahn-Schacht. (Foto: Florian Peljak)

Vor allem die geplante Baustelle an der Milchstraße verärgert die Anwohner. Dort, wo derzeit ein Baum steht, umgeben von Gestrüpp und einer Bank, wird ein 30 Meter tiefer Rettungsschacht in den Boden getrieben. Zweieinhalb Jahre soll das dauern. Die Baustelle liegt inmitten von Wohnhäusern. "Zum Schutz der Anwohner vor Lärm gibt es eine Schallschutzwand", teilt eine Sprecherin der Bahn mit. Das überzeugt allerdings die wenigsten. Mandy Litzenburger ist "nicht begeistert", wenn sie an diese Baustelle denkt. Sie untertreibt, das merkt man ihr an. Außerdem wird der unterirdische Tunnel "direkt unter unserem Haus durchführen", sagt die 43-Jährige.

Sie rechnet damit, dass sie die Vibrationen der Tunnelarbeiten in der Wohnung deutlich spüren wird. Sie sei keine Pendlerin und benutze die S-Bahn ohnehin kaum. Deswegen ist sie gegen die zweite Stammstrecke. "Da bin ich eben eher egoistisch", sagt sie. Sie ist mit dieser Sicht nicht alleine - im Gegenteil. Viele Haidhauser haben das Gefühl vor allem die negativen Auswirkungen abzubekommen, obwohl sie selbst gar nicht davon profitieren.

Wenige Meter weiter spielt Alice Rogner mit ihren beiden Kindern auf dem Spielplatz an der Kellerstraße. Über die Kellerstraße werden Lastwagen den Bauschutt abtransportieren, der durch den Bau des Rettungsschachtes anfällt. Sie und ihre Kinder sind sehr häufig auf dem Spielplatz, erzählt Alice Rogner. Mit Beginn der Bauarbeiten kommen sie aber nicht mehr hierher. "Das ist für die Kinder natürlich total blöd", sagt sie. Zwar gebe es in dem Viertel auch andere Spielplätze aber der an der Kellerstraße sei für sie der schönste. "Ich mache mir vor allem Sorgen wegen der Feinstaubbelastung", sagt Rogner. Sie hofft, dass die Bauarbeiten doch noch einmal verschoben werden. Am besten so lange bis ihre Kinder dem Spielplatz entwachsen sind.

Alice Rogner sorgt sich um den Spielplatz. (Foto: Stephan Rumpf)

An der Milchstraße schließt Benedikt Will seine Bar auf. Er ist Geschäftsführer des "Lollo Rosso, Bar(varian) Grill". Vor drei Jahren ist die Bar in das Haus Ecke Milch- und Pütrichstraße eingezogen. "Das ist eine absolute Katastrophe", sagt Will mit Blick auf die zukünftige Baustelle vor seiner Tür. Er hofft, dass er durch seine Öffnungszeiten - die Bar macht erst abends auf - vom Gröbsten verschont bleibt. Aber die ansonsten beliebten Plätze vor seinem Laden hat er eigentlich abgeschrieben. "Man hat einfach lieber den Blick auf einen Baum und nicht auf eine Lärmschutzwand."

Die Folgen sind für ihn eindeutig: "Umsatzeinbußen, auf jeden Fall". Auch wenn er an den Lastwagenverkehr in Haidhausen oder die Parkplätze denkt, die der Baustelle weichen müssen, schüttelt er den Kopf: "Vollkatastrophe." Für Will ist die zweite Stammstrecke mindestens so ärgerlich wie unnötig: "Im Endeffekt brauchen wir eh einen S-Bahn-Ring außenrum."

Dafür kämpft die Bürgerinitiative "Haidhausen S-Bahn-Ausbau" (BI) seit elf Jahren. Der Ausbau der Stammstrecke und der weitere Tunnelbau durch Haidhausens Untergrund ist für die BI-Vorsitzende Ingeborg Michelfeit "nutzlos, sinnlos, nicht zeitgemäß und nicht zukunftsorientiert." Der zweite Tunnel führe nicht zu mehr Pünktlichkeit und auch nicht zu mehr Zügen oder besseren Umsteigemöglichkeiten. Ingeborg Michelfeit hofft, dass es doch noch anders kommt, und wartet zunächst die derzeit sechs Klagen gegen das Planfeststellungsverfahren ab. Denn eines ist für sie sicher: Die Umsetzung der "planungstechnischen Missgeburt aus den Neunzigerjahren" muss verhindert werden. Alleine schon, weil "nicht noch weitere zehn Jahre vergehen dürfen, bis die Stadt mit einem adäquaten Verkehrsnetz aufwarten kann", sagt die Chefin der Initiative.

Wirt Benedikt Will spricht von einer "Vollkatastrophe". (Foto: Stephan Rumpf)

Doch nicht jeder Anwohner lehnt den Ausbau der Stammstrecke ab. Für Sohail Waseq ist dieser sogar dringend notwendig. Er wohnt an der Milchstraße, nicht einmal zehn Meter von der zukünftigen Baustelle entfernt. "Klar sind wir von dem Lärm betroffen, aber das finde ich nicht so schlimm", sagt Waseq. Tagsüber sei er meistens unterwegs, in der Universität oder in der Arbeit. Nahezu täglich fährt er deswegen mit der S-Bahn. "Wenn es danach auf der Stammstrecke besser wird, dann nehme ich die Bauarbeiten eben in Kauf", sagt er. Dann muss Waseq los - er muss die S-Bahn erwischen.

© SZ vom 05.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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