Sendling:Die Gefahr als Poesie des Lebens

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Eine Gedenktafel am Haus Daiserstraße 50 erinnert an Franz und Toni Schmid, die vor 85 Jahren das Matterhorn erstmals über die Nordwand bestiegen

Von Julian Raff, Sendling

Wer heute aus Untersendling mit dem Radl zum Kraxeln fährt, ist drei Minuten später im Kletterzentrum an der Thalkirchner Straße, das als eine der weltweit ältesten und größten Anlagen seiner Art schon einen Platz in der Bergsportgeschichte hat - so mickrig es auch erscheinen mag neben, sagen wir mal, dem Matterhorn. Genau dorthin brachen vor 85 Jahren die damals 26 und 21 Jahre alten Brüder Franz und Toni Schmid per Fahrrad auf, um den Postkartenberg erstmals über seine 1100 Meter hohe Nordwand zu besteigen. Die Tour prägte sowohl das extreme Bergsteigen als auch dessen öffentliche Wahrnehmung. Dass die Schmids die erste Etappe bis Lindau mit dem Zug fuhren, schmälert den aus Geldmangel unternommenen Kraftakt der Anreise nicht. Vom Bodensee nach Zermatt blieben noch immer 350 bergige Kilometer auf Fahrrädern, die zwar keine Gangschaltung hatten, dafür aber einen in der nahen Schmiede von Kletterspezl Georg Hausmann verstärkten Rahmen. So schwer drückte eine aus heutiger Sicht ebenso wuchtige wie sicherheitstechnisch unbrauchbare Ausrüstung.

Ins mondäne Zermatt, wo sie ihr Gratisquartier auf dem Absprungtisch der Sprungschanze aufschlugen, zogen die Bergvagabunden unter den despektierlichen Blicken der Luxustouristen ein, was sich kurz darauf mit internationalem Presseaufmarsch, Champagner und Luxusdinners ins Gegenteil verkehren sollte. Auf Glamour waren die Burschen dabei kaum aus, als sie am 31. Juli 1931 um vier Uhr morgens in die Wand einstiegen. Wenn etwas außer den eigenen Träumen zählte, dann war es die Anerkennung der leistungsstarken Münchner Kletterszene, die das mürbe Fels-Eis-Gebäck der großen Westalpenwände für sich entdeckte.

Nun ziert eine Gedenktafel ihr Elterhaus, enthüllt von Florian von Brunn (links) und Rudi Erlacher. (Foto: Catherina Hess)

Ebenso kraftvoll wie vorsichtig stiegen die Schmids bis zu einem kleinen Absatzauf 4100 Meter, von wo aus sie nach einer nasskalten Biwaknacht am 1. August den Gipfel erreichten. Inzwischen war ein Gewittersturm aufgezogen, der den Gipfel zwei Tage lang verschluckte. Angereiste Reporter witterten eine Tragödie, die Kletterfreunde Hans Ertl und Friedl Brandt wollten schon zur Totenbergung aufbrechen, als sie am frühen Morgen des 3. August durchs Fernrohr eine Gestalt in der Tür der winzigen Solvay-Biwakhütte auf der Gratschulter erblickten - auch das sollte sich mal kurz vorstellen, der heute sein Gipfelselfie an die Lieben daheim postet.

Das tagelange Bangen konnte den anschließenden Rummel nur verstärken. Die Olympische Goldmedaille bei den Spielen in Los Angeles heizte ein Jahr später den Wettlauf um die "Großen Nordwände" zusätzlich an, einen später an Eiger und Grandes Jorasses geradezu selbstmörderischen Wettlauf: Dass Toni, der jüngere, die Auszeichnung posthum erhielt, nachdem er kurz zuvor am Wiesbachhorn (Hohe Tauern) tödlich abgestürzt war, gehört fast schon zur Normalität einer Alpin-Epoche, deren Draufgängertum heute mindestens so viel Befremden wie Bewunderung auslöst.

Die Enthüllung einer Gedenktafel an der Daiserstraße 50 nahe des Südbades, dem früheren Wohnhaus der Schmids, nutzten denn auch die Initiatoren zur Reflexion über eine aus der Not der Weltwirtschaftskrise geborene Subkultur, deren Akteure sich aus schierem Mangel an bürgerlichen Perspektiven ins Abenteuer stürzten, um bald darauf von der NS-Propaganda vereinnahmt zu werden. Als SPD-Politiker erinnerte Florian von Brunn demgegenüber an die Tradition der "Arbeiterbergsteiger". Laut Alpenvereins-Vizepräsident Rudi Erlacher hätten die Schmids und ihre Zeitgenossen aber, jenseits jeder Politik, "in der Gefahr die Poesie des Lebens" gesucht.

© SZ vom 02.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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