Schwanthalerhöhe:Geburtstag einer glorreichen Idee

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In den Internationalen Klassen der Carl-von-Linde-Realschule lernen seit 40 Jahren Kinder aus aller Welt. Ihr Erfolg beweist, dass Integration nicht nur ein Wort ist, sondern funktionieren kann

Von Daniel Sippel, Schwanthalerhöhe

Der Geist Friedrich Schillers lebt. Er durchzieht die Flure der Münchner Carl-von-Linde-Realschule. Schillers Vision "Alle Menschen werden Brüder" vereint hier Schülerinnen und Schüler aus 57 Nationen - und das seit 40 Jahren. Lehrer, Politiker und Schüler feierten gerade ein doppeltes Jubiläum: 50 Jahre Linde-Realschule, 40 Jahre internationale "I-Klassen". Das bedeutet: Seit 1976 lernen hier Schüler aus aller Welt zusammen - und werden Freunde. Die Herkunftsländer der Kinder spiegeln stets die Weltpolitik, so Konrektor Harald Kraus: "Ein bis zwei Jahre versetzt merken wir hier, wo die Krisensituationen sind in der Welt."

In den letzten Jahren nahm die städtische Linde-Realschule vor allem Afghanen und Syrer auf. Nach ihrer Flucht bietet ihnen das Haus eine neue Heimat: In den Internationalen Klassen - in München einmalig - pauken die Jugendlichen intensiv Deutsch und schaffen nach der zehnten Klasse den Realschulabschluss. "Es ist ein Erfolgsmodell - etwas Vergleichbares gibt es nicht", sagt Kraus. "Unsere Durchfallquote bei der Mittleren Reifeprüfung lag im letzten Jahr bei null Prozent!" Die Schüler der I-Klassen seien überdurchschnittlich motiviert: "Die wissen, dass es ihre große Chance ist."

Peter Tietz bekam seine große Chance im Jahr 1986. Damals flüchtete seine Familie aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Deutschland. Eine I-Klasse der Linde-Realschule nahm ihn auf. Er lernte Deutsch, schaffte einen exzellenten Abschluss und machte Abitur. Dann studierte er Biologie und Chemie. Heute arbeitet er als Studienrat an seiner ehemaligen Schule - und bereitet die Klassen auf ihre Zukunft vor. "Er ist der beste Karriereberater in ganz München", sagt sein Chef, Harald Kraus, stolz. 20 Prozent seiner Schüler der I-Klassen gehen auf das Gymnasium und schaffen - wie Tietz - das Abitur. Jeweils 40 Prozent der Schüler lernen weiter an einer Fachoberschule oder in einer Ausbildung.

Hinter dem Erfolg des Konzepts "Internationale Klassen" steht die jahrelange, harte Arbeit der Lehrer. Zwar haben ihre Schüler die Aufnahmeprüfung geschafft - einen mündlichen und einen schriftlichen Deutschtest. Trotzdem müssen die Lehrer viele deutsche Fachbegriffe im Unterricht erklären - und sich teils mit Gesten helfen: "Man wird zum Pantomime-Spieler", sagt eine erfahrene Lehrerin. Hinzu kommen fachliche Hürden: "Teilweise unterrichten wir Schüler, die drei Jahre lang in ihren Herkunftsländern überhaupt nicht beschult wurden", sagt Konrektor Kraus. Ein anderer Kollege gesteht, die I-Klassen seien schwerer zu unterrichten als die "normalen Klassen". Doch auch in den "normalen Klassen" sitzen Schüler, die nicht perfekt deutsch sprechen: Die Schule weist einen Migrantenanteil von 90 Prozent aus. Eine Lehrerin kommentiert: "Wir haben hier keine Hans-Peter-Klaus-Klassen."

Hans-Peter-Klaus-Klassen - also Klassen mit wenigen ausländischen Kindern - starben an der Linde-Realschule im Jahr 1976 aus. Damals kämpften Kinder von Gastarbeitern mit der deutschen Sprache. Für sie war es wegen der Sprachprobleme nahezu unmöglich, eine deutsche Realschule zu besuchen, sich damit zu qualifizieren und zu integrieren. Der damalige Schulleiter der Linde-Realschule ertrug diesen Status quo nicht. Er rief zu einer Abstimmung im Kollegium auf: Sollten sie künftig Deutsch als Fremdsprache an ihrer Realschule unterrichten? Seine Kollegen entschieden sich einstimmig für seine Idee. Die "Klassen zur Förderung Kinder ausländischer Arbeitnehmer" waren geboren. Also wich der Stenografie-Unterricht im Stundenplan dem Fach "Deutsch als Fremdsprache". Eine "glorreiche Idee" nennt das Münchens Dritte Bürgermeisterin, Christine Strobl, während der Feierstunde am Freitag. Auch eine pensionierte Lehrerin, die sich damals für die Einführung der I-Klassen einsetzte, freut sich: "Es macht mich stolz, dass die Lehrer heute noch hinter der Idee stehen."

Die Pädagogen unterrichten ihre 230 I-Schüler trotz aller Herausforderungen nach eigenen Angaben gerne. Manche betreuen so viele I-Klassen wie möglich. Sie profitierten vom interkulturellen Austausch: "Manche Schüler bringen mir Arabisch und Persisch bei", sagt eine Lehrerin. Auch für die Schüler seien die I-Klassen ein Geschenk. Beatrix Zurek, gebürtige Polin und Münchner Stadtschulrätin, klingt beinahe traurig, als sie zugibt: "Ich hätte mir gewünscht, auf eine solche Schule zu gehen."

Diverse schulische Hintergründe, wackelige Deutschkenntnisse und unterschiedliche Kulturen: All das prallt in den I-Klassen zusammen. Doch die ähnlichen Migrations-Geschichten schweißen die Kinder zusammen; zusätzlich überwinden sie jeden Tag die gleiche Hürde: Die deutsche Sprache. Sie vereint sie. Das zeigen sie auch in einem selbstproduzierten Kurzfilm während der Jubiläums-Feier. Er heißt: "Nation Earth: Wir kommen doch alle vom gleichen Planeten." In ihm bitten Jugendliche ihre Kameraden, Konzepte wie "Integration" zu erklären. Einer sagt: "Integration? Keine Ahnung - was soll ich sagen?" Er überlegt kurz, dann fällt ihm die Antwort ein: "Liebe!" Später trägt eine Schülerin ihr Gedicht vor und ruft voller Inbrunst: "Jeder Mensch ist in fast jedem Land ein Ausländer." Aus dem Mund der Kinder, die seit Jahren zusammen lernen, lachen und weinen, klingen diese Sätze nicht wie Plattitüden. Schiller wäre vermutlich entzückt.

© SZ vom 10.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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