Schwabing:Kein Spaziergang

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Die Rampe funktioniert: Nuria Weberpals von Regsam (hinten) und Bezirksausschuss-Mitglied Alexandra Ruzicka (im Rollstuhl) beim Einsteigen in den Bus. (Foto: Robert Haas)

Drei Kommunalpolitikerinnen stellen im Selbstversuch fest, wie mühsam es ist, sich im Rollstuhl durch München zu bewegen. Ihr Fazit: Bei Entscheidungen zur Barrierefreiheit sollen Betroffene mehr Gehör finden

Von Ellen Draxel, Schwabing

Der Rollstuhl parkt im feuchten Gras. Julia Schmitt-Thiel nimmt schwungvoll darin Platz und versucht, den fahrbaren Untersatz aus dem Rasen zu manövrieren. Vergeblich - die SPD-Stadträtin kommt keinen Millimeter voran. "Was mache ich denn jetzt?" fragt sie und blickt hilfesuchend in die Runde. "Rückwärtsfahren", rufen ihr die Profis zu. Es wird nicht der letzte wertvolle Tipp gewesen sein an diesem Nachmittag.

Das Sozialnetzwerk Regsam hat zu einem etwas anderen Stadtspaziergang geladen. Um am eigenen Leib zu erfahren, wie mühsam es sein kann, sich als gehandicapter Mensch durch München zu bewegen, sollen Politiker eine Stunde lang selbst einen Rollstuhl durch die Stadt dirigieren. Außer Schmitt-Thiel sind dem Angebot zwei Stadtteilvertreterinnen aus Schwabing-West und Schwabing-Freimann gefolgt: Johanna Schmidt-Jevtic und Alexandra Ruzicka (beide Grüne). Nun sitzen sie in ihrem fahrbaren Untersatz und bewundern schon nach wenigen Minuten die Experten, die sie begleiten.

Die Route, die Regsam-Moderatorin Nuria Weberpals für das Experiment ausgewählt hat, ist zwar keine besonders schwierige, sie führt vom Scheidplatz zum Alten- und Service-Zentrum (ASZ) an der Hiltenspergerstraße. Und soll entweder rollernd durch den Luitpoldpark oder via Tram- oder U-Bahn zurückgelegt werden. Doch den Bürgervertreterinnen wird schnell klar: Jede Strecke hat ihre Tücken.

Die Bordsteinkanten sind die erste Hürde. Obgleich sie abgesenkt sind, schaffen es die Politikerinnen in ihren Rollstühlen nicht, die Kanten beim Vorwärtsfahren zu überwinden. Sie müssen erst auf der Straße umdrehen, um anschließend mit viel Muskelkraft der Arme die Hinterräder über das Hindernis zu hieven.

Schmidt-Jevtic, Mitglied im Unterausschuss Soziales im Westschwabinger Bezirksausschuss, ist in der Trambahn-Gruppe. Wie ihre Helferin, eine 83-jährige Schwabingerin, die sich infolge einer Tumorerkrankung an der Hüfte vor vielen Jahren nur noch mit dem Rollstuhl fortbewegen kann, bittet sie den Fahrer am Scheidplatz, die Rampe auszufahren. "Im Alltag ist es nur ein ,Bitte' und ,Danke'", bemerkt die Seniorin. "Diese Abhängigkeit, die macht mir unglaublich zu schaffen."

Aber immerhin, der Einstieg klappt. Eine Fahrkarte allerdings könnte sich Schmidt-Jevtic nicht kaufen. Dafür ist der Gang zu schmal. "Hätte ich keine, hätte ich jetzt schwarz fahren müssen", konstatiert die Lokalpolitikerin. Dass die beiden Damen Glück hatten, eine Straßenbahn mit einer funktionierenden Rampe zu erwischen, erzählt die 83-Jährige erst später. Ihre Erfahrung ist, sich in Geduld üben zu müssen. "Denn bei jeder dritten Tram ist die Rampe kaputt. Dann heißt es warten." Am Hohenzollernplatz angekommen, geht es über holprige Steine, bevor Schmidt-Jevtic an der Angererstraße am Eingang in den Bayernpark ihren Rollstuhl rückwärts den Hang hochfahren muss. Nach dieser Exkursion, weiß sie, wird sie ihre "Arme spüren".

Eine ähnliche Erfahrung macht Julia Schmitt-Thiel. Die Stadträtin hat mit ihrer Begleiterin Asli van Lück, die als Rollstuhlfahrerin in der Stiftung Pfennigparade wohnt, den Weg durch den Park eingeschlagen. "Da war Kies, grobes Pflaster, Asphalt - der Untergrund hat dauernd gewechselt", berichtet sie beim anschließenden Resümee. "Das war körperlich enorm anstrengend. Außerdem bin ich dauernd in der Wiese gelandet." Ohne Unterstützung, weiß die Sozialdemokratin, wäre sie "nie" rechtzeitig im ASZ angekommen. Ein "Aha-Erlebnis" war für sie außerdem, "wie wenige Möglichkeiten Menschen im Rollstuhl doch haben, selbst in Geschäfte zu gehen" - einfach, weil die Schwelle zu hoch ist.

Alexandra Ruzicka aus Schwabing-Freimann fuhr mit ihrem Team U-Bahn. "Die Rampe am Bahnhof", gibt sie zu, "wäre ich alleine nicht hochgekommen". Nicht bewusst war ihr bislang zudem, wie weit die Strecken für Rollstuhlfahrer oft sind. "Man kann nie den direkten Weg nehmen, sondern muss immer einen Umweg machen." Auch, weil Aufzüge oft defekt sind. Was soll sich also künftig ändern? "Wir müssen bei Bauvorhaben jeglicher Art viel mehr die Barrierefreiheit mitdenken", sagt Julia Schmitt-Thiel. Unterbunden gehöre, dass vor abgesenkten Bordsteinen Autos parken. Außerdem will sie das Thema Inklusion verstärkt in den Mobilitätsausschuss tragen. "Unser Ziel muss sein, die Selbständigkeit der Menschen so gut wie möglich zu erhalten." Gebraucht werde, ergänzt Ruzicka, vor allem der "Blick der Betroffenen". Bei jeder Planung sollte ein Rollstuhlfahrer mit dabei sein, der weiß, worauf es ankommt.

"Die Haltung vieler uns Menschen mit Behinderungen gegenüber ist beschissen", ist die Erfahrung Asli van Lücks. "Sicher, viele Leute haben Berührungsängste. Aber die habe ich auch." Sie würde sich wünschen, bei Entscheidungen zur Barrierefreiheit gefragt zu werden. Und sich dafür persönlich auch zur Verfügung stellen. "Denn Fakt ist doch: Die meisten Menschen kommen irgendwann in ein Alter, wo sie in so einem Ding sitzen müssen."

© SZ vom 22.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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