Rock 'n' Roll:James Bond schlägt zurück

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Anzings "Dream Team" holt nach, was es vor einem Jahr in Sotschi verpasste, und wird in Poing Weltmeister. Der überraschende Erfolg macht sie ähnlich fassungslos wie die Gegner aus Russland.

Von Andreas Liebmann, Poing/Anzing

Das Ende war von vollendeter Synchronität. Während die vier Tänzer im Scheinwerferlicht ihre Partnerinnen je viermal um den eigenen Hals drehten - eine Figur, die sich Krawatte nennt -, rissen die beiden Schattenfiguren im Vordergrund gleichzeitig ihre Hände mit gestreckten Zeigefingern nach oben, als hätten sie diese Triumphpose monatelang geübt. Sekunden später, als sich die vier Paare auf der hell erleuchteten Tanzfläche zum Schlussbild aufstellten, stieß der rechte Schatten seine linke Faust nach vorne, während der linke erneut die Finger zur Decke streckte. Das Publikum kreischte.

Halb zwölf war es inzwischen, kurz vor Mitternacht, es war der Schluss- und Höhepunkt der Welt- und Europameisterschaft der Rock-'n'-Roll-Formationen in Poing. Das rastlose Streicher-Thema des James-Bond-Liedes Live and let die hallte in den Ohren des Publikums vermutlich noch nach, als sich das "Rock 'n' Roll Dream Team", die Paradeformation des gastgebenden SV Anzing, in der Poinger Sporthalle aufstellte, um Arm in Arm auf seine Wertung zu warten. Die beiden Schatten traten ins Licht, die Trainer Tini Jana-Obermeier und Robert Obermeier, er im schwarzen Anzug, sie im schwarzen Kostüm, und hakten sich in die umschlungene Reihe ein.

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(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Der WM-Titel für Anzings Dream Team verblüfft alle.

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(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Einlage der Jugend-Welt- und Europameister im Boogie Woogie: Elias Preuhs und Theresa Sommerkamp aus Oberpframmern.

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(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Technik, Ausdruck und ein Höchstmaß an Akrobatik: Anzings Dream Team bringt am Samstag alles zusammen.

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(Foto: Photographie Peter Hinz-Rosin)

Das Trainer-Ehepaar Obermeier ist begeistert.

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(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Alexandra Dietl setzt sich ein Krönchen auf.

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(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Auch die anderen Anzinger Gruppen, wie hier die elftplatzierte Ladies-Formation Twickers, überzeugen.

Unter die ersten Vier der Vorrunde hatten sie kommen wollen, um sich einen weiteren Auftritt in der Hoffnungsrunde zu ersparen. "Das ist auch psychologisch wichtig, damit man nicht das Gefühl hat, zu den Schlechteren zu gehören", hatte Robert Obermeier zuvor erklärt. Das hatten sie geschafft. Dann hatte das Los ihnen den letzten Auftritt des Abends beschert, "ein Glücksfall", fand Obermeier, "wir wollten dem Publikum zum Abschluss auf jeden Fall zeigen, dass wir es auch draufhaben." Auch das hatten sie geschafft. Aber sonst?

Rückblende. Knapp elf Monate ist es her, dass dieses Ensemble durch Sotschi fuhr, auf dem Rückweg vom Bolschoi-Eispalast ins Hotel. "Wir waren so niedergeschlagen, und ich dachte: Das kann es doch nicht gewesen sein", erinnert sich Obermeier. Mit ihrem James-Bond-Programm hatten sie sich gegen die russische Übermacht nicht durchsetzen können, hatten Fehler gemacht und waren in der Hoffnungsrunde ausgeschieden. Einfach so. Sie hatten ihr volles Programm nicht zeigen können, weil das Reglement akrobatische Höchstschwierigkeiten erst fürs Finale vorsieht. "Wie abgewürgt." Und dann waren sie wegen eines missverständlichen Programmablaufs auch noch dem Einmarsch der Nationen ferngeblieben - während sie auf der Tribüne saßen, marschierte ein einsames Deutschland-Schild über die Tanzfläche. Drei Monate lang wägten die Verantwortlichen des kleinen Vereins aus dem Landkreis Ebersberg danach ab, ehe sie eine Bewerbung abschickten: als Ausrichter der nächsten WM. Nun standen sie hier, in einer Sporthalle, die sie in viel Eigenarbeit für 800 Zuschauer bis zur Unkenntlichkeit umgebaut hatten. Und plötzlich war es still.

In Sotschi waren sechs russische Formationen im Finale unter sich geblieben, diesmal hatte es mit den Anzingern auch noch "No Limit" (Plochingen) in den Endkampf geschafft. Doch dort hatten sich die Rock Comets aus Moskau als Titelverteidiger zur Führung getanzt, vor vier anderen russischen Formationen. Fast als einzige hatten die Anzinger nur vier statt sechs Paare aufgeboten, fraglich, wie die Wertungsrichter das fanden. Ein bisschen schlampig seien die favorisierten Rock Comets gewesen, fand Obermeier, eine offensichtliche Wackelkandidatin hätten sie bei ihren Sprüngen dabeigehabt, die dann auch bei einer Schulterkugel (ähnlich der Krawatte) vom Rücken ihres Partners abgerutscht war.

Die Zuschauer im Livestream, die keine Karten bekommen hatten, sahen dann auf ihren Monitoren das Unfassbare, fünf Sekunden ehe es auch in der Halle eingeblendet wurde: 88,42 Punkte, Platz eins. Unzählige Zuschauer stürmten die Tanzfläche, irre Sprünge und Umarmungen folgten, Tränen flossen. Das Fernsehteam des Bayerischen Rundfunks riss auf der Tribüne die gerade eingepackten Kameras aus den Taschen und filmte weiter. "Ich hätte es nicht für möglich gehalten", gestand Obermeier.

Ähnlich ging es wohl den favorisierten Rock Comets. "Die waren fassungslos bei der Siegerehrung", sagte Anzings Trainer. Hatten nicht erwartet, dass die Deutschen das Höchstmaß an akrobatischen Schwierigkeiten draufhaben würden, hatten es vielleicht sogar nicht einmal beim Auftritt mitbekommen. Doch die Doppelsalti gelangen, auch sonst gab es keine Patzer. Und die Anzinger Kunst, mit ihren Tänzen kleine Geschichten zu erzählen, stach. James Bond auf der Jagd nach russischen Agenten.

Die Acht lächelten hinfort, dass Markus Ernst nach der Vorrunde die Schulter nicht mehr bewegen konnte, stundenlang vom Team-Physiotherapeuten Franz Jehl behandelt worden war. Dass Sophia Mühlberger erst zwei Monate zuvor ins Team gerutscht war. Nach dem Kreuzbandriss ihres Partners Jonas Keil hatte sie sich warmgehalten - bis auch Tamara Weichselbaumer nach Monaten harten Trainings einen Kreuzbandriss erlitt. "Diese Belastungen sind ungesund", weiß Obermeier. Nun werde pausiert, die EM im November in Moskau lassen sie aus. Bis vier Uhr morgens feierten die Helden in Poing, nach zwei Stunden Schlaf kehrten sie dann in die Halle zurück. Um den anderen beim Abbau zu helfen.

© SZ vom 16.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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