Münchner Band auf Reisen:Odysseus auf dem Sonnendeck

Lesezeit: 5 min

Der Sonne entgegen: Auf ihrer "Neuen Odyssee" segelten Quadro Nuevo zusammen mit vielen Freunden um die Äolischen Inseln herum. (Foto: René van der Voorden)

Die reisewütigen Weltmusiker von "Quadro Nuevo" sind für ihr bisher aufwändigstes Projekt mit einem großen Segelschiff auf Homers Spuren unterwegs.

Von Oliver Hochkeppel, München/Äolische Inseln

Es ist ein fast unwirkliches Bild: Drei Mädchen stehen in weißen Gewändern und mit Instrumenten auf einem bizarren Felsen mitten im Meer. Mit ihren Sirenenklängen scheinen sie ein großes Segelschiff anzulocken, das nah an ihnen vorbeifährt - und auf dem tatsächlich ein Mann Odysseus-gleich am Mast festgebunden ist, während die Besatzung alles um sie herum zu ignorieren scheint. Zum Beispiel das Schlauchboot, von dem aus alles gefilmt wird, auch per Drohne. Drei, vier Mal wiederholt sich das, damit keine moderne Yacht, kein Frachter oder Tragflügelboot im Bild ist, was besonders den der prallen Sonne ausgesetzten jungen Frauen einiges abverlangt. Diese Szenerie, die zu einer neue Odyssee-Verfilmung gehören könnte (freilich auch ein bisschen an eine "Fluch der Karibik"-Folge denken lässt), ist kein Hollywood-Dreh, sondern Teil des bislang aufwändigsten Reiseprojekts der Münchner Band Quadro Nuevo . Es hat sie im September zu den Äolischen Inseln nördlich von Sizilien geführt.

In Stammbesetzung vor dem Strombolino: Chris Gall, D.D. Lowka, Mulo Francel und Andreas Hinterseher (von links). (Foto: René van der Voorden)

"Weltstraßenmusiker" hat die SZ das Quartett vor einiger Zeit genannt. Ein Wortspiel mit Hintergrund, schließt für diese vier doch die Beschäftigung mit der Musik dieser Welt auch das Bereisen der Welt mit ein. Zwar sind fast alle Musiker auch Reisende, doch die meisten bleiben in ihrer Blase von Flughäfen, Hotels und Konzertstätten, von Kollegen, Veranstaltern und Publikum. Für den Holzbläser Mulo Francel, den Bassisten und Perkussionisten D.D. Lowka, den Akkordeonisten (und inzwischen auch Trompeter, Kameramann und Regisseur) Andreas Hinterseher und für den vor kurzem als Nachfolger der Harfenistin Evelyn Huber dazugekommenen Pianisten Chris Gall dagegen gehört es seit Gründung der Band vor 25 Jahren dazu, bei Auftritten unterwegs zu sein, den Kontakt mit den Menschen zu suchen, sich von den Orten inspirieren zu lassen, ihre Klänge aufzunehmen.

Die erfolgreichste deutsche Weltmusik-Band war zuvor schon in Argentinien und Ägypten

Dieses peripathetische Verständnis des Musizierens ist vielleicht der Schlüssel zum Aufstieg von Quadro Nuevo zur erfolgreichsten deutschen Band im Weltmusik-Segment. So schnappte man die "Canzone della Strada", wie eines ihrer frühen Erfolgsalben heißt, tatsächlich auf den Straßen Italiens auf, die Musette in den Bistros Südfrankreichs oder südosteuropäische Rhythmik und Harmonik in den Landschaften des Balkans und Mittelmeerraumes. Immer generalstabsmäßiger hat Mulo Francel die Trips der Band aufgezogen. Schon 2014 tauchte man in Buenos Aires in den Tango ein. 2017 ging es zusammen mit der Band Cairo Steps auf eine große Ägypten-Tour. Fotografen, Filmer und Reporter wurden mit eingebunden. Mit dem Nebeneffekt, dass die Reiserei im Lauf der Zeit immer einzigartigeres Material abwarf. So finden sich im Portfolio des ungemein produktiven Quartetts unter den weit über 40 Veröffentlichungen neben CDs und Hörbüchern auch Fotobände und Roadbooks.

Aufgetakelt: Die "Florette", die mit 100 Jahren älteste und letzte original erhaltene Brigantine Europas, war eine Woche lang das Zuhause der Musiker. (Foto: René van der Voorden)

Zugleich kam bei Mulo Francel ein immer stärkerer philosophischer Überbau hinzu, wohl auch biografisch bedingt: "Mein früh verstorbener Vater stammte aus Böhmen, ich habe also Flucht und Vertreibung in der eigenen Familie gehabt. Dadurch fand ich früh Zugang zu alten Epen, die sich darum, um die Suche nach alter und neuer Heimat, ums Unterwegssein, ums Ankommen und Nichtankommen drehen." Als er vor drei Jahren an einem Mittelmeerstrand saß, fiel ihm Odysseus ein: "Ob er wohl einmal hier gewesen war, fragte ich mich. Wieviel von dieser Geschichte real passiert und wieviel nur Metapher ist. Welche Orte geografisch lokalisierbar sind und welche nur Einbildung." Die Planung eines neuen Projekts nahm Gestalt an, das der Frage nachgehen sollte, was diese alten Sagen uns heute noch zu erzählen haben. Corona brachte ausnahmsweise reichlich Zeit zum Planen, und so kam die bislang aufwändigste Fahrt von Quadro Nuevo in Gang, fast eine Quintessenz der bisherigen Reisen: Eine "neue Odyssee" durch die Äolischen Inseln auf den Spuren Homers und seiner Helden.

32 Mitwirkende an dem großen Projekt starteten auf Sizilien

Erste Anlaufstation von Francel war Thomas Linsmayer, der nicht nur beim Kulturzentrum Pasinger Fabrik arbeitet, sondern nebenher Reiseleiter bei Studiosus Reisen und Spezialist für die Äolischen beziehungsweise Liparischen Inseln ist, wie sie nach der Hauptinsel auch genannt werden. Er arbeitete einen Reiseplan aus, der die historischen Hintergründe, die spektakulärsten Orte für Foto- und Filmshootings und die Gelegenheiten zum Musizieren unter einen Hut brachte. Eine Woche sollte es auf die Inseln selbst gehen, eine Woche auf ein Segelschiff. Und das Team für diese Kreuzung aus Studienfahrt, Abenteuerreise und interdisziplinärem Kunst-Happening wuchs Zug um Zug an. Nicht weniger als 32 Reisende kamen so an einem gewittrigen Septembertag aus allen Himmelsrichtungen am Flughafen von Catania an. Als weitere Musiker der Gitarrist Paulo Morello, der Saxofonist Max Geller, der Schlagzeuger und Perkussionist Robert Kainar sowie der Flötist Philipp Sterzer, der schon in den Achtzigerjahren in Francels und Lowkas Rosenheimer Jugendband Mind Games dabei war, bevor er beruflich als einziger einen anderen Weg einschlug: Der Harvard-Absolvent ist heute Psychiater und Professor an der Berliner Charité.

Der Fels der Band: Der Saxofonist Mulo Francel hatte die Idee für die musikalische Odyssee. (Foto: René van der Voorden)

Zu den bewährten Fotografen Mike Meyer und René van der Voorden stieß Annette Hempfling dazu. Drei Journalisten, einige Sponsoren aus dem Freundeskreis und außerdem etliche Familienmitglieder komplettierten den Tross. Denn, und auch das war neu und führt zur Eingangsszene zurück: Francel hatte diesmal Rollen zugeteilt. Ein Homer, ein Odysseus, ein Zeus, ein Apoll, ein Ikarus waren ebenso bestimmt wie eine Athene oder eine Circe. Für eine Bacchanal-Szene trollten Faune rund um den von seiner Rolle als Dionysios nicht wirklich begeisterten Thomas Linsmayer herum. Sogar eine Kleiderordnung wurde vorab verschickt: Keine grellen Farben oder modernen Muster, keine Labels oder Brandings, alles möglichst archaisch und einfach, gerne mit Tüchern und Schmuck. "Das Gewand" wurde so während der Reise zum geflügelten Wort. Daran riechen sollte man gegen Ende des Abenteuers besser nicht mehr.

"Unabhängig davon, was am Ende konkret musikalisch herauskommt, ist es wichtig, dass wir uns in die Figuren hineinversetzen, die Rollen und Situationen spielen", erklärt Francel. Das inspiriere, liefere Ideen und fließe in die Musik ein. Zumal zu deren Kern nach wie vor Improvisation gehöre: "Wir kommen alle mehr oder weniger vom Jazz."

Spiel mit dem Feuer: Am dampfenden Kraterrand des Vulcano filmt Mike Meyer die Band für das dazu komponierte Stück. (Foto: René van der Voorden)

Zur ersten eindrucksvollen Kulisse dieses kreativen Spiels wurde Stromboli, mit seinem makellosen Kegel und der konstanten Rauchsäule seines seit Jahrtausenden daueraktiven Vulkans der "Leuchtturm der Antike". Als nicht minder spektakulär erwies sich die Mondlandschaft von Vulcano, wo man in den Fumarolen des Kraters das Video für einen dafür komponierten Song aufnahm. Oder die mit malerisch nur ansatzweise beschriebene Kraterbucht, wo auch der Filmklassiker "Il Postino" gedreht worden war. Oder die aus dem Meer ragenden Felsnadeln, die man als die Plankten der Odyssee ausgemacht hat. Bis dann in der zweiten Woche - mit nur noch 22 Abenteurern - der eigentliche Star der Reise zum Zug kam, die "Florette": Die mit 100 Jahren älteste und letzte original erhaltene Brigantine Europas, ein 40 Meter langes Holz-Segelfrachtschiff, das vom aus Wolfratshausen stammenden Eigner und Kapitän Ron Haynes und seiner kanadischen Frau Nicole unter maltesischer Flagge als hochseetüchtiges Segelschulschiff betrieben wird.

Es wurde nicht nur gedreht. Quadro Nuevo spielten auch Konzerte an ungewöhnlichen Orten auf Ihrer Reise, wie hier mit Picknick auf dem Monte Guardia auf Lipari. (Foto: René van der Voorden)

Mit kristallklarem Wasser unter dem Kiel und - nach kurzer Schulung vielleicht nicht wirklich seemännisch, aber dafür mit gehöriger Muskelanstrengung - gesetzten 550 Quadratmeter Segeln groovte sich das Team endgültig ein. Viel wurde musiziert, viel diskutiert, abends gab es auf dem Vordeck Vorträge aus der Odyssee, über Erotik in der Antike, aber auch über die Bedeutung von Boden und Wasser oder die komplexe Physiologie der menschlichen Wahrnehmung. Ein interdisziplinäres Künstler-Kollektiv aus Musikern, Wissenschaftlern, Wort- und Bildschöpfern wuchs zusammen. Und häufte einen Stromboli-gleichen Berg an Material an. Fotos, Videos, zu Papier gebrachte Gedanken und viel Musik in den Köpfen wie auf Notenblättern, an allem wird nun nach der Rückkehr bereits fleißig gearbeitet. Ein Ausstellung in der Pasinger Fabrik wird es geben, ein Reisebuch vermutlich entstehen, ganz sicher natürlich ein voraussichtlich im Dezember erscheinendes Quadro Nuevo-Musikalbum. "Das wird definitiv anders als alle bisherigen", sagt Mulo Francel.

Abgang: Nach dem Abenteuer ist vor dem nächsten Abenteuer. (Foto: René van der Voorden)
© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: