Premiere am Volkstheater:Das Leben, ein Zufall

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In Heidelberg lernt Saša Stanišić einen netten Zahnarzt kennen, der ihm nicht nur Amalgamfüllungen verpasst, sondern auch zum Angeln an den Neckar einlädt (hinten: Nina Steils, vorn: Pola Jane O'Mara). (Foto: Gabriela Neeb)

Diese Saison steht der erfolgreiche Roman "Herkunft" auf etlichen Spielplänen - auch am Volkstheater. Saša Stanišić beschreibt darin den Verlust seiner Heimat und den unschätzbaren Wert der Erinnerung

Von Marlene Knobloch

Was macht einen Menschen eigentlich aus? Was hat dieser Ort, von dem jemand kommt, damit zu tun? Wenn man in München-Pasing aufwächst, kriegt man Pasing je wieder aus sich raus? Oder bleibt das in der Biografie wie dieser elende Rotweinfleck auf der weißen Hose? Die eigene Herkunft, Heimat und Identität beschäftigen die Menschen. Die Frage "Woher kommst du?" hat im gesellschaftlichen Diskurs längst die Sphäre der bloßen Neugier verlassen und taucht in Identitätspolitik und Rassismusdebatten auf. Das Theater redet da seit vielen Jahren eifrig mit, jetzt inszeniert Felix Hafner am Volkstheater Saša Stanišić' "Herkunft". Ein Roman, der sich auf charmante Weise mit dem Thema auseinandersetzt.

Für den aus dem heutigen Bosnien und Herzegowina stammenden Schriftsteller ist Herkunft vor allem eins: Zufall. Stanišić wurde 1978 in Višegrad an der Drina geboren, im ehemaligen Jugoslawien. Das kann er der deutschen Ausländerbehörde mitteilen, was danach kommt, etwa die Flucht vor dem Krieg nach Heidelberg 1993, zerfällt in Fragmente, Erinnerungen, Fantasien. Der 2019 mit dem deutschen Buchpreis ausgezeichnete Roman ist der Versuch eines Selbstporträts, das liebenswert scheitert. Und nur scheitern kann: Das Dorf, in dem Stanišić geboren wurde, gibt es nicht mehr. Das Land, in dem er laufen lernte, gibt es nicht mehr. Und während er im Roman Erinnerungen sammelt, verliert sie seine an Demenz erkrankte Großmutter mehr und mehr.

Schon die Form des Romans ist eine Herausforderung für jeden Regisseur: Der Roman spielt mit vielen, unterschiedlichen Ebenen, innerhalb eines Satzes springt Stanišić von sich als kleinen Jungen zu sich als Familienvater in Hamburg und wieder zurück. Er kostet großzügig die magische Zeitkapsel-Funktion von Literatur aus, wenn er schreibt: "Es ist der 7. März 2018 in Višegrad, Bosnien und Herzegowina. Großmutter ist siebenundachtzig Jahre alt und elf Jahre alt." Im Text ist es nie ganz eindeutig, was Fiktion und was Autobiografie ist. Dazu kommen mehrere Erzähler, viele Figuren, die auftauchen und wieder abtauchen, und am Schluss sogar sechs verschiedene Romanenden, für die sich der Leser entscheiden kann.

Theatermacher spornt so etwas naturgemäß eher an, so wird das Stück allein diese Saison in Oberhausen, Hamburg, Berlin und eben auch am Münchner Volkstheater gespielt. Jeder, der den Roman adaptieren wollte, musste vorab ein Konzept entwickeln und sich beim Luchterhand-Verlag und somit bei Stanišić selbst bewerben. Der Autor entschied dann, wer seinen Text inszenieren dürfe.

Der österreichische Regisseur Felix Hafner überzeugte mit seinen Ideen. Als er das Buch vergangenen Sommer las, war er begeistert. Er dachte aber auch, das sei doch alles zu komplex für die Bühne. Als dann der Vorschlag vom Volkstheater kam, den Roman für die Bühne zu adaptieren, sagte er trotzdem ja.

Zwei Tage vor der Premiere kommt der 28-jährige Felix Hafner ins "Meschugge" mit einem Smoothie in der Hand, nutzt die kurze Pause, um eine schnelle Falafel zwischen die Endproben zu quetschen. Das israelisch-arabische Restaurant neben dem Volkstheater ist ein adäquates Ambiente, um über Herkunft zu sprechen. Und über die Herausforderung, ein 360-seitiges, autobiografisches, Ebenen stapelndes Essay-Erinnerungs-Geschnipsel zu inszenieren, an dem sich gleichzeitig vier andere Häuser versuchen. Wie bringt man da Ordnung rein, und, viel wichtiger, seine eigene Stimme?

Hafner sieht das entspannt: "Der Roman ist so vielschichtig und hat so viele Perspektiven, da muss man zwingend seine eigene Version draus machen." Die Gefahr, das Gleiche wie etwa Sascha Hawemann bei der Uraufführung in Oberhausen Mitte Oktober zu machen, gäbe es also gar nicht. Hafner will sich auf genau diese Vielstimmigkeit konzentrieren. Auf der Bühne sollen sechs "Suchende" die verschiedenen Saša Stanišić' aus dem Roman spielen. Dem Autor gefiel diese Idee, er schrieb selbst an der Stückfassung mit. In Hafners "Herkunft" tauchen als Suchende jetzt zum Beispiel der Kindheits-Saša, der Heidelberg-Saša oder der Saša auf, der noch von einem Jugoslawien träumt, das es längst nicht mehr so gibt. Um das Träumerische, auch das Utopische zu illustrieren, das den Roman durchzieht, hat Hafner außerdem den Komponisten Clemens Wenger beauftragt, passende Musik zur Inszenierung zu schreiben.

Was seiner Meinung nach den Erfolg des Romans ausmacht, will Hafner auch zeigen: Es geht nicht nur um die Biografie Stanišić'. "Die Frage, die unser Stück stellt, stellen sich alle Menschen." Hafners Team interviewte deswegen Passanten auf den Straßen Münchens und fragte: "Was bedeutet Herkunft für Sie?" Einige der Stimmen werden in der Inszenierung zu hören sein. "Wir wollten die Polyphonie dieser Stadt einfangen", und die klingt dann mal nach Jugendlichen aus der Walachei, die von der Geschichte der zerrissenen rumänischen Regionen erzählen, nach Flüchtlingen aus dem Bosnienkrieg oder halt auch kurz, derb und ehrlich, wenn eine Frau antwortet: "Heimat ist für mich da, wo man gescheites Boarisch spricht."

Wie seine Inszenierung aber endet, weiß Hafner selbst noch nicht. Die Schauspieler haben sechs verschiedene Enden geprobt, wie sie der Roman vorschlägt. Bei der Vorstellung entscheidet der Würfel. Der Abend ist also wie die eigene Herkunft und Biografie: Zufall.

Herkunft , Volkstheater, Donnerstag, 22. Oktober

© SZ vom 22.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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