Palliativmedizin:In Würde sterben - daheim

Hospiz- und Palliativverband beklagt Mangel an Fachkräften

Zu Hause Abschied von der Welt nehmen: Dabei hilft die ambulante Palliativversorgung unheilbar kranken Menschen.

(Foto: Waltraud Grubitzsch/dpa)

Die Ärzte können für Ernst Jacobus, 78, nichts mehr tun. Er ist todkrank. Ein spezielles Palliativteam berät und begleitet ihn auf dem letzten Stück seines Lebens - bei ihm zu Hause. Das Wichtigste? Dass es ihm gutgeht dabei.

Von Stephan Handel

Anstatt zu weinen, hat der Patient gerade wieder einen Fussel von seiner Hose gezupft, einen Fussel, der da gar nicht war, aber was soll man schon tun, wenn das Gespräch so schwierig ist, so angenehm aber auch. Der Patient ist fest entschlossen, Haltung zu bewahren, seine Angelegenheiten zu regeln, wie er es gewohnt war ein Leben lang. Die Angelegenheiten, die jetzt zu regeln sind, sind allerdings seine letzten. Wen würde es verwundern, dass sich Nervosität, Unsicherheit, Angst wahrscheinlich auch von ganz tief drinnen ihren Weg nach draußen suchen und deshalb nun nicht vorhandene Fussel von der Oberbekleidung entfernt werden müssen?

Der Patient, er soll in dieser Geschichte Ernst Jacobus heißen, ist 78 Jahre alt; praktisch sein ganzes Berufsleben hat er in einem wissenschaftlichen Institut gearbeitet. Weil man es damals noch nicht besser wusste - und es ignorierte, als man es besser hätte wissen können -, haben sie dort Asbest verwendet, wann immer etwas isoliert werden musste. Viel Asbest. So viel, dass sich Jacobus bis heute erinnert, wie ein Kollege mal hereinkam, von Kopf bis Fuß weiß von Asbeststaub, wie dieser Staub dann mit Pressluft von der Kleidung geblasen wurde und sich wunderbar im ganzen Raum verteilte. Als Jacobus in Rente ging vor mehr als einem Jahrzehnt, da war schon bekannt, dass Krebs entstehen kann in der Lunge durch die Asbestfasern, die viel kleiner sind als ein Fussel auf der Hose, aber dennoch zu groß, als dass der Körper und seine Abwehrkräfte sie einfach wieder hinausbefördern könnten. Ernst Jacobus trat gesund in den Ruhestand ein und dachte sich: Glück gehabt. Bis vor einem Jahr.

Zu Hause sterben können

Die Geschichte, die ihr Patient erzählt, dauert jetzt schon eine Weile, aber Kerstin Höke zeigt keine Spur von ärztlicher Ungeduld, von jener Ungeduld, die so viele kranke Menschen stört, wenn sie merken: Mein Arzt hat eigentlich keine Zeit für mich. Kerstin Höke hat Zeit, sie hört sich die Geschichte an, obwohl sie sie wahrscheinlich schon kennt aus der Akte. Aber es ist wichtig, dass der Patient sie noch einmal erzählen kann. Höke ist die Leiterin des SAPV-Teams am Krankenhaus der Barmherzigen Brüder, und sie ist heute zum Patienten gekommen, um zu besprechen, was zu tun ist. SAPV steht für Spezialisierte ambulante Palliativversorgung. Hinter den beruhigend klingenden lateinischen Fremdwörtern steckt eine brutale Wahrheit: SAPV-Teams ermöglichen es Menschen, zu Hause sterben zu können.

Von Brutalität spricht jetzt auch Ernst Jacobus, von der Diagnose nämlich, die ihn vor einem Jahr ereilte. Er war zu einer Routine-Untersuchung bei seinem Hausarzt, der wollte eigentlich per Ultraschall die Leber untersuchen, entdeckte dabei aber mehr oder weniger zufällig ein Stück darüber, in der Lunge, einen weißen Fleck - und sprach den Satz, der jedem Patienten Angst einjagt: "Das gefällt mir gar nicht."

Einweisung ins Krankenhaus, Computertomografie, schließlich das Ergebnis: ein Pleuramesotheliom, ein Tumor des Brustfells, dem die Mediziner das fast kuschelig klingende Adjektiv "maligne" verpassen, das doch nichts anderes heißt als: bösartig. Nicht heilbar. Trotzdem Chemotherapie, zweimal, und eine Pleurodese, bei der das Brust- mit dem Lungenfell verklebt wird, damit sich in dem Zwischenraum keine Flüssigkeit ansammeln kann. Dass aber nun Kerstin Höke im Wohnzimmer von Ernst Jacobus sitzt, bedeutet, dass die anderen Ärzte alles getan haben, was ihnen möglich ist. Dass die Krankheit unheilbar ist und weiter fortschreiten wird.

"Wir müssen uns ein Konzept für die Schmerzen überlegen"

Das ist der Zeitpunkt, zu dem die SAPV-Teams ins Spiel kommen. Für die Stadt München gibt es fünf davon, am LMU-Klinikum, beim Hospiz-Verein "Dasein", beim Christophorus-Hospiz-Verein, schließlich das Palliativteam München-West - und Kerstin Hökes Team bei den Barmherzigen Brüdern, das jüngste in dieser Liste, seit Juli arbeiten neben ihr eine weitere Ärztin, zwei Pflegekräfte und im Büro eine Koordinatorin. Was sie machen, wofür SAPV gut ist, das zeigt sich exemplarisch am Erstgespräch bei dem Patienten mit dem Tumor an der Lunge.

Es ist eine gediegene Wohnung in Schwabing, an den Wänden hängen Ölbilder, daneben stehen Antiquitäten - "von der Schwiegermutter geerbt", hatte Frau Jacobus bei der Begrüßung gesagt -, im gut gefüllten Bücherregal neben Lexika und Romanen "Die gute deutsche Küche" und "Die Alpen in Farbe". In diesem solide bürgerlichen Wohnzimmer zieht Kerstin Höke nun einen Aktendeckel aus ihrer Tasche und sagt: "Wir müssen uns ein Konzept für die Schmerzen überlegen."

Das ist die Grundidee von Palliativmedizin und -pflege: Dass, wenn ein Patient schon nicht mehr zu heilen ist, ihm doch wenigstens ein Leben in Würde und ohne zu große Belastungen ermöglicht werden soll. Im Fall von Ernst Jacobus bedeutet das: Er trägt ein Pflaster, das ein Schmerzmittel permanent abgibt, das ist die Basisdosierung. Diese ist aber nicht immer ausreichend - für die "Schmerzspitzen", wenn also der Schmerz stärker wird als die Medizin, bekommt er ein Morphin, "bis zu sechs Mal täglich zehn Tropfen", und einen praktischen Rat gleich mit dazu: Er solle sich die Dosis doch abends vorm Schlafengehen in ein Schnapsglas abfüllen und aufs Nachtkästchen stellen, dann muss er nachts nicht aufstehen.

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