Opferberatung "Before":Zahl rechter Gewalttaten in München steigt

Lesezeit: 3 min

Die Opferberatung "Before" spricht von einem besorgniserregenden Ausmaß der Übergriffe in der Stadt - von denen selbst Kinder betroffen sind.

Von Martin Bernstein

"Unsere Arbeit ist ein Seismograf für das, was sich in der Stadt tut", sagt Siegfried Benker, geschäftsführender Vorstand des Münchner Vereins "Before", der sich um Opfer rechter Gewalt kümmert. Und dieser Seismograf zeigt an: Rechte Gewalt ist auch in München ein Problem - nicht erst, aber verstärkt seit den rassistischen Ausschreitungen in Chemnitz Ende August.

Um 174 Beratungsfälle kümmerte sich der Opferhilfeverein im vergangenen Jahr, Rassismus war dabei sowohl in der Antidiskriminierungsberatung als auch in der Opferberatung das häufigste Tatmotiv. Bundes- und Landespolizei hatten vergangenes Jahr rund 35 mutmaßlich rechtsradikale Gewalttaten vermeldet - eine offizielle Jahresbilanz, deren Zahlen noch höher ausfallen dürften, gibt es erst im März. 2017 hatte die Polizei 29 rechte Gewalttaten registriert, dazu zahlreiche weitere Fälle von Nötigung oder Bedrohung.

Die Zunahme rechter Gewalt weist für Benker auf ein verändertes gesellschaftliches Klima hin. "Ausgrenzung hat Konsequenzen und fordert Opfer", sagt der Before-Geschäftsführer. Rassisten, Antisemiten, Rechtsextremisten, Schwulenhasser verstünden derartige Debatten als "Selbstermächtigung zur Gewalt". Die 79 Fälle, in denen Before-Opferberater im vergangenen Jahr insgesamt 150 Betroffene begleitet haben, spielten sich nach Angaben der Organisation vor allem im öffentlichen Raum, aber auch im Wohnumfeld ab. "Die Attacken, die häufig in Form von Bedrohungen, Beleidigungen und körperlichen Angriffen stattfinden, haben wie in der Antidiskriminierungsberatung oft einen rassistischen Hintergrund", hieß es am Donnerstag.

Chronologie rechter Übergriffe
:"Ich bringe alle Ausländer um"

Auch in München hat die rechte Gewalt 2018 zugenommen. Ein Überblick über die Vorfälle des vergangenen Jahres.

Von Martin Bernstein

Die Auswirkungen rechter Gewalttaten halten laut Before meist lange an: "38 Jahre nach dem Oktoberfestattentat benötigen Betroffene weiterhin Unterstützung." 2018 richtete die Stadt einen Fonds für die Opfer ein. Über die Beratungsstelle können Betroffene Anträge auf Unterstützung gegen die anhaltenden Folgen der Tat stellen. Auch Menschen, die durch den mutmaßlich rassistisch motivierten Anschlag am Olympia-Einkaufszentrum 2016 getroffen wurden, begleitet der Verein. Den Abschluss des NSU-Prozesses am Münchener Landgericht im vergangenen Jahr bewerten die Before-Experten zwiespältig. Einerseits sei er ein wichtiger Schritt in der Auseinandersetzung mit dem rechtsterroristischen NSU-Komplex gewesen. "Nach den teils milden Urteilen" sei aber auch klar, dass das Prozessende kein Schlussstrich unter die Aufklärung des NSU-Netzwerks sein könne.

Das zeige nicht zuletzt die Serie von mit "NSU 2.0" gezeichneten Drohbriefen gegen die Anwältin Seda Başay-Yıldız, die sowohl im NSU- als auch im OEZ-Waffenhändler-Prozess Opferfamilien vertrat. Die milden Strafen waren nach Benkers Einschätzung "ein Signal, das in die rechte Szene hineinwirkt". Wer den NSU auf nur drei Personen zu reduzieren versuche, ermutige deren Umfeld. "Das ist das Erschütternde." Benkers Forderung: "Wir dürfen unter keinen Umständen die Fehler der Vergangenheit wiederholen und müssen Betroffenen direkt und unbürokratisch helfen." Dafür sei es wichtig, rechte Gewalt eindeutig als solche zu benennen, ein Schritt, den die bayerischen Behörden seiner Meinung nach auch im Falle des Attentates am Olympia-Einkaufszentrum endlich machen sollten. "Sonst geschieht das Gleiche wie im Falle von Oktoberfestattentat und NSU: Gesellschaft und auch Sicherheitsbehörden lernen nicht aus den Anschlägen."

Dass im Jahr 2018 auch 23 Kinder und Jugendliche in der Opferberatung von Before begleitet wurden, zeige, welches besorgniserregende Ausmaß rechte Gewalt angenommen habe, sagt Damian Groten, Pressesprecher der Organisation. "Die Ausschreitungen, bei denen in Chemnitz Menschen gezielt rassistisch attackiert wurden sowie die hohe Zahl rechter Übergriffe andernorts zeigen, dass dem Rechtsruck in den öffentlichen Debatten auch Taten folgen", davon ist der Before-Vorstandsvorsitzende Christian Ude überzeugt. "Nicht nur die Politik, sondern auch die Zivilgesellschaft muss der bedrohlichen Verschärfung und Verrohung entschieden entgegentreten. Eine konsequente Strafverfolgung und ein effektiver Schutz der Betroffenen sind selbstverständlich erforderlich, aber darüber hinaus brauchen wir wieder ein Klima des Respekts und der Toleranz, zu dem jede und jeder beitragen kann", mahnt Ude.

Rechte Diskriminierung, auch das erleben die Before-Berater nahezu täglich, bereitet den Boden, auf dem dann die Saat der Gewalt aufgehen kann. In praktisch allen Lebensbereichen finde Diskriminierung statt - am häufigsten am Arbeitsplatz (22 Fälle), bei Behördengängen (16) und im Wohnumfeld (14). Ein neuer Schwerpunkt zeigte sich nach Before-Angaben außerdem im Bildungsbereich, mit insgesamt zwölf Fällen in Schulen und Universitäten. "Die Auswirkungen von Diskriminierungen im direkten alltäglichen Umfeld sind besonders schwerwiegend und können den Betroffenen den Alltag zur Hölle machen. Wenn sie zum Beispiel bei der Zulassung zu Studiengängen diskriminiert werden, kann das für sie Zukunftsperspektiven zerstören", betont Léa Rei, Antidiskriminierungsberaterin bei Before.

Dagegenhalten könne jeder im Alltag, sagt Siegfried Benker. Wenn versucht werde, Menschen auszugrenzen, dann müsse man Position dagegen beziehen, statt wegzuschauen. In der Pflicht sieht der Before-Geschäftsführer auch die Münchner Kommunalpolitiker. Im jetzt beginnenden Kommunalwahlkampf dürften sie "keine Stimmungen erzeugen, die den gesellschaftlichen Frieden stören".

© SZ.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: