Der Schnee ist weg, die Touristen auch; der Wind treibt ein feines Nieseln vor sich her, es prickelt auf der Haut. Was tun vier nicht mehr junge Frauen an einem unwirtlichen Frühjahrsmorgen in Yongpyong, wo 2018 einige olympische Ski-Wettbewerbe stattfinden sollen?
Sie knipsen sich gegenseitig am Teich, auf der Zufahrt zu den schmucken kleinen Wohnblocks, die aussehen wie sozialer Wohnungsbau in Finnland, vor einem Hauseingang. Nein, wegen der Kandidatur für die Winterspiele seien sie nicht aus Seoul nach Yongpyong gekommen, sagen die Frauen und lachen. Sport interessiert sie nicht, bloß Kim Yu-na, Südkoreas Eiskunstlauf-Olympiasiegerin. "Das hier ist ein Schauplatz von ,Wintersonata'", erklärt eine von ihnen. So heißt die populärste Seifenoper Ostasiens mit Millionen meist weiblichen Fans auch in Japan, Taiwan und China.
Eigentlich spielt das Melodrama in Chuncheon, der Hauptstadt von Gangwon, der Provinz, zu der Pyeongchang gehört. Doch viele Episoden wurden in diesen Häusern gedreht - als Ferienwohnungen stehen sie außerhalb der Ski-Saison leer. "Schau, wenn du jemanden wirklich magst, dann kannst du das nicht erklären", steht auf einer Tafel. Und darunter erklärend, dies sei die Stelle, wo sich Min-hyeong erstmals zu Yu-jin hingezogen fühlte. Hier lässt sich Frau Kim jetzt von Frau Park ablichten. Aus dem Wald dahinter ruft ein Kuckuck.
Im Frühjahr schläft Yongpyong tief, Nebel hängt über den braunen Skihängen. Eine Schafherde blökt im Pistenauslauf, ein Mann verjagt sie. Ein Mechaniker repariert eine Schneekanone. An der Talstation der Gondelbahn warten Tagesausflügler aus Seoul, um trotz Nebel und Regen auf den Gipfel des Balwhang zu fahren.
Yongpyong gilt als Wiege des koreanischen Skisports. Die Station wurde 1975 eröffnet. Oder genauer: aus dem Boden gestampft. Zuvor war hier nur Wald. Deshalb hat Yongpyong keine Bewohner, nur Gäste und Personal: Kellner, Köche, Zimmermädchen. Sie wohnen in ihrem Kajütenbett im Wohnheim. Und fahren nach Hause, sobald sie frei haben.
Pyeongchang kandidiert zum dritten Mal. Vor vier Jahren, als es um die Winterspiele 2014 ging, unterlagen die Koreaner dem damaligen russischen Präsidenten Wladimir Putin, der den Badeort Sotschi am Schwarzen Meer zum Wintersport großredete. Das hat die Koreaner verletzt, anders als Sotschi hat Yongpyong sich immerhin mit Weltcup-Skirennen und den Asienspielen 1999 bewährt.
Vor zwei Jahren fanden hier die Biathlon-Weltmeisterschaften statt. Bei Pyeongchangs ersten Kandidaturen war Yongpyong als "Zentrum der Schneewettbewerbe" vorgesehen. Nun fällt diese Ehre Alpensia zu, Yongpyong ist zur Wettkampfstätte zurückgestuft worden.
Bericht der Evaluierungskommission:München - gut genug für Olympia?
Der IOC-Prüfbericht ist eine wichtige Etappe im Rennen um Olympia 2018. München hat dabei gut abgeschnitten, doch der südkoreanische Mitbewerber Pyeongchang war besser. In welcher Disziplin hat München gepatzt? Und wo liegen die Stärken der deutschen Bewerbung? Ein Überblick.
Alpensia liegt im nächsten Seitental, zu Fuß eine Dreiviertelstunde entfernt. Allerdings muss man auf der Straße gehen, es gibt noch keine Wanderwege. Alpensia ist ein Name, den auszusprechen vielen Koreanern Mühe bereitet. Aber er ist Programm, wie auch die Namen der Restaurants "Edelweiß" und "Mont Blanc".
Alpensia, das sind zwei Hotels und fünf neue Skipisten. Der Ort ist erst zwei Jahre alt: Er wurde für die Spiele 2014 geplant und dann trotzdem gebaut. Ein Retorten-Ort, wie in Yongpyong war auch hier zuvor nur Wald. Geplant wurde er von einem Architektur-Konzern in Minnesota. So sieht er auch aus: Als hätte Disney einen Ferienort in den Alpen nachgebaut.
Auch in Alpensia gibt es nur Gäste und Personal, dazu ein Erlebnisbad, eine Konzerthalle, ein Tagungszentrum und ein paar ganz normale koreanische Restaurants. Dazu "Everysing", ein Karaokeschuppen. Das darf nie fehlen, wenn Ostasiaten Urlaub machen.
Im Abstand von zwei Flugstunden lebe eine Milliarde Menschen, wirbt das Bewerbungskomitee. Hier Winterspiele auszutragen, würde neue Märkte für den Wintersport öffnen. Etwa die Hälfte der Gäste stamme bereits aus dem Ausland, weiß die Rezeptionistin in Alpensia. Freilich würden viele, auch Koreaner, das Skilaufen bloß einmal probieren. Und dann sei es gut.
Von Alpensia gelangt man zu Fuß in wenigen Minuten zur Sprunganlage, die Straße hat sogar einen Bürgersteig. Ein Hyundai Chairman mit abgedunkelten Scheiben gleitet vorbei. Und noch einer. Dann ein großer Mercedes. Ein Wachmann legt für jedes Auto die Hand zum Gruß an seine Mütze. In Südkorea stinkt Geld noch nicht, dafür ist reich sein noch zu neu.
Von den Schanzen überblickt man die Langlauf- und Biathlonstadien. Im Sommer sind sie ein Golfplatz, dort beginnen jetzt die Männer aus dem Hyundai zu spielen. Die Loipen sind asphaltierte Wege. Am Schießstand üben ein paar koreanische Biathleten, fürs Liegend-Schießen legen sie sich auf eine Yoga-Matte, der Asphalt ist zu hart.
Alpensia und Yongpyong gehören zu Daegwallyeong, einem eher ärmlichen Straßendorf mit kleinen Läden, Handwerkern und Freikirchen - eine andere Welt. Am Ortseingang hängt das Plakat der Kandidatur für 2014, man hat bloß die Jahreszahl überklebt. Allerdings dringt das Après-Ski-Korea langsam auch hier ein, es gibt bereits ein "Cafe Torino", eine Galerie und eine Boutique. Die neuen Hochhäuser am Ortsrand heißen "Alpenrose".
Korea baut auch in der Provinz in die Höhe, selbst am Rande kleiner Bauerndörfer. Die Schule ist gerade aus. In Koreas Provinz rufen Jugendliche, wenn sie einen Ausländer sehen, stets "Hello". Je provinzieller, desto lauter. Erwidert man den Gruß, werden sie scheu. Die Frage nach den Olympischen Spielen beantworten die Jungs mit hochgereckten Fäusten. "Korea", rufen sie. Selber treiben sie keinen Wintersport, sie spielen lieber Fußball.
Das Kreisstadt Pyeongchang, die der Kandidatur ihren Namen geliehen hat, ist ein 10.000-Einwohner-Marktflecken 60 Kilometer weiter südlich. Der Bus fährt durch zerklüftete, dicht bewaldete Berge. Die Täler sind tief, die kleinen Dörfer Gruppen eingeschossiger Hanok, wie man die traditionellen Häuser nennt. Dahinter stehen auch hier immer wieder Wohntürme. Im Bus riecht es nach Kuhstall. Wettkämpfe sind in Pyeongchang keine geplant.
Sollten Südkorea die Winterspiele 2018 zugesprochen werden, dürften dies die einzigen Spiele werden, an denen der Ort, der ihnen seinen Namen gibt, kaum beteiligt ist.
Die Olympiabewerbung ist ein Hauptstadtprojekt. Das Organisationskomitee sitzt in Seoul und Chuncheon, der Hauptstadt der Provinz Gangwon. In der Stadtverwaltung von Pyeongchang arbeitet bloß ein einziger Mensch für die Kandidatur: Kwon Hyeok-su. München, sagt Herr Kwon besorgt und vielleicht zweckpessimistisch, sei eine starke Kandidatur, er hoffe aber sehr, dass Korea es diesmal schaffe.
Auch er nennt das Argument von der Milliarde Menschen im Abstand von zwei Flugstunden. Und er sagt, in Vancouver habe sich Korea doch als würdige Wintersportnation bewiesen: 14 Medaillen, sechs davon in Gold. Und Pyeongchangs Kandidatur sei gegenüber den vorigen ja verbessert worden. Ursprünglich hätten einige Eislaufwettbewerbe im drei Busstunden entfernten Seoul stattfinden sollen. Nun biete man die kompaktesten Spiele seit Jahrzehnten.
Wie andere aufsteigende Staaten will Südkorea mit dem Sport Prestige gewinnen: Nicht nur mit Siegen, auch als Veranstalter. Dieses Jahr findet die Leichtathletik-WM in Daegu statt. Wie der Sport wird übrigens auch die Populärkultur zum Zwecke des Prestigegewinns gefördert, die "Wintersonata" zum Beispiel.
Pyeongchang ist weit weg vom neuen, kosmopolitischen Korea. In seinen Marktarkaden hocken die Frauen am Boden und schneiden Kimchi, den mit Chili-Pfeffer gewürzten Sauerkohl, der als Beilage zu jeder Mahlzeit gehört. Ein Händler bündelt getrocknete Tintenfische. Am Laden der Agrargenossenschaft steht: "Das beste Rindfleisch der Welt". Der Bezirk Pyeongchang lebt zu 50 Prozent von der Landwirtschaft, vor allem von Rinderzucht und vom Gemüse-, Rettich-, Mais- und Kartoffel-Anbau. 40 Prozent der Wirtschaftsleistung generiert der Tourismus, Industrie gibt es kaum.
Chang Sun-yeong, eine Englischlehrerin im Städtchen, sagt, die Leute hier erhofften sich von den Spielen einen wirtschaftlichen Aufschwung. Es gehe nicht schlecht, aber mit den Spielen ginge es noch besser. Gangwon im äußersten Nordosten ist nicht nur Südkoreas ärmste Provinz, sondern auch die einzige, die vom Koreakrieg geteilt wurde. Als Seoul mit seiner "Sonnenschein-Politik" noch versuchte, Nordkorea zu öffnen, war auch dies ein Argument für die Olympischen Spiele. Inzwischen ignoriert der Süden den Norden wieder, und die Organisatoren versichern, die Teilung sei kein Sicherheitsrisiko.
Südkorea ist eines der zentralisiertesten Länder der Welt, ein Drittel seiner fast 50 Millionen Einwohner lebt im Großraum Seoul. Die Provinz überaltert und entvölkert sich - man sagt, die Schulen seien besser in Seoul, und natürlich die Berufsaussichten, die Läden und die Kinos.
Statt diesem Trend entgegenzuwirken, versucht die Regierung, das ganze Land zum Vorort von Seoul zu machen. Expresszüge sollen die Hauptstädter zum Skilaufen bringen, und sei es bloß für einen Tag, und die Provinz abends ins Kino nach Seoul. Falls Pyeongchang den Zuschlag erhält, werde Gangwon ans Hochgeschwindigkeits-Bahnnetz angeschlossen, verspricht die Regierung.
Das dürfte zum wichtigsten Gewinn für Gangwon werden. Die Strecke soll bis nach Gangneung weitergezogen werden, eine kleine Stadt am Meer.
Die Fahrt dorthin, mit dem Bus von Daegwallyeong hinunter, ist spektakulär. Plötzlich öffnet sich der Blick übers Meer. Die Autobahn klebt als Rampe am bewaldeten Steilhang. Ganz anders als Yongpyong und Alpensia ist Gangneung eine Stadt mit fast 2000 Jahren Geschichte. Hier sollen 2018 die Eislaufwettbewerbe stattfinden - auch wenn dieser Sport in Gangneung noch neu ist, die Eishalle wurde erst 1998 gebaut.
Inzwischen gab es dort freilich bereits internationale Kunstlauf- und Shorttrack-Meisterschaften. "Hello" rufen auch hier drei Schülerinnen. Und kichern, sie haben keine Antwort erwartet. Nein, Eislaufen interessiert sie nicht, die Spiele auch nicht. In Yongpyong waren sie noch nie. Den Ort kennen sie freilich: "Das ist doch dort, wo die ,Wintersonata' gedreht wurde."