Oktoberfest 1946:Dünnbier im Festzelt

Im September 1946 feiert die Stadt die erste Wiesn nach dem Krieg: Schießbuden sind verboten, die Krinoline aber dreht ihre Runden.

Von Wolfgang Görl

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(Foto: Fotoarchiv Otfried Schmidt/Süddeutsche Zeitung Photo)

In seinem Buch "Schellingstraße 48" erinnert sich der Schriftsteller Walter Kolbenhoff an die Ankunft im zerstörten München nach Kriegsende. "Ich ging zögernd durch ein paar Pfade, die frei geschaufelt waren, in Richtung einer Kirche und eines großen gotischen Bauwerks, das wohl einmal das Rathaus gewesen sein musste. Mal konnte man kilometerweit sehen, dann wieder ging man durch Schluchten, zu beiden Seiten ragten die Trümmerhaufen hoch (. . . ) Ich suchte nichts. Ich hatte nur die Stadt sehen wollen. Aber es gab keine Stadt. Es gab nur diese, den Geist betäubende Wüste."

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(Foto: Fotoarchiv Otfried Schmidt/Süddeutsche Zeitung Photo)

Es versteht sich, dass die Bewohner dieser Wüste - der Schriftsteller Kolbenhoff schreibt, sie "glichen Gespenstern" - im Herbst 1945 andere Sorgen hatten, als ein Volksfest zu feiern. Bereits in den Kriegsjahren war das Oktoberfest ausgefallen, die Theresienwiese war zur Baustelle geworden, auf der die NS-Führung fünf unterirdische Bunker sowie Flakstellungen und Splittergräben errichten ließ. In den Jahren davor hatten die Nazis das Fest instrumentalisiert, Juden hatten keinen Zutritt, und seit 1936 durften nur noch Hakenkreuzfahnen auf der Wiesn wehen. Die weiß-blauen Landesfarben und die schwarz-gelben Stadtfarben waren verboten.

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(Foto: Fotoarchiv Otfried Schmidt/Süddeutsche Zeitung Photo)

Auch der freischaffende Fotoreporter Otfried Schmidt, gerade noch als Berichterstatter an der Ostfront, in Frankreich und Italien eingesetzt, kam 1946 wieder auf die Theresienwiese, um die Münchner auf ihrem Weg zurück in die Normalität zu dokumentieren. Dem späteren Gesellschaftsfotografen, unter anderem für die Abendzeitung, sind die Bilder dieser Fotoserie zu verdanken. Schmidts Pressefotos vermitteln das Bild eines fröhlichen Festes.

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(Foto: Fotoarchiv Otfried Schmidt/Süddeutsche Zeitung Photo)

Seit dem ersten Oktoberfest im Jahr 1810 war das Biergelage schon einige Male ausgefallen, sei es, weil sich das Land im Krieg befand, sei es wegen der Cholera oder wirtschaftlicher Krisen, aber die wiesnlose Zeit zwischen 1939 und 1945 war die bis dahin längste Unterbrechung des Festreigens. So konnte, so durfte es nicht weitergehen. 1946 wollten die Münchner endlich wieder feiern, für einige Stunden die Not und das Elend vergessen, die der von Hitler und seinen Gefolgsleuten entfachte Krieg über sie gebracht hatte. Am 14. September eröffnete Oberbürgermeister Karl Scharnagl zusammen mit Oberst Eugene Keller, dem amerikanischen Stadtkommandanten, das erste Nachkriegsfest auf der Theresienwiese. Es in die glorreiche Tradition des Oktoberfests einzureihen, wagte man angesichts des dürftigen Angebots nicht. Offiziell firmierte es unter dem bescheidenen Namen "Kleines Herbstfest".

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(Foto: Fotoarchiv Otfried Schmidt/Süddeutsche Zeitung Photo)

Es waren lausige Zeiten. Was die Menschen zu essen und zu trinken brauchten, bezogen sie über Lebensmittelmarken, oder sie versorgten sich auf dem Schwarzmarkt. Dass es auf der Ersatzwiesn so üppig zugehen würde wie in früheren Zeiten, erwartete niemand. Entsprechend elegisch ist auch der Bericht, mit dem die Süddeutsche Zeitung Ende August 1946 das Herbstfest ankündigte: "So müssen wir uns halt die seligen Erinnerungen an gebratene Hendl, Ochsen und Steckerlfische, an Türkischen Honig, Schweinswürstl und Kokosnüsse und Wiesnmärzen aufsparen. Einmal kommt's bestimmt wieder." Rückblickend darf man sagen, dass der Autor mit seiner Prophezeiung absolut richtig lag.

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(Foto: Fotoarchiv Otfried Schmidt/Süddeutsche Zeitung Photo)

In Anbetracht der Umstände war das Herbstfest dann gar nicht mal so spartanisch. Die ehrwürdige Krinoline, die noch heute auf der Wiesn im Einsatz ist, drehte ihre Runden, es gab eine "Raketenfahrt zum Mond", zwei Kettenkarussells und sechs Schiffschaukeln, auch der Toboggan war wieder zurückgekehrt, und die Steilwandfahrer knatterten mit ihren Maschinen tollkühn über die senkrechten Bretter. Ebenfalls zu bestaunen waren "Wunder aus aller Welt", zu denen eine Unterwassershow, indische Zauberer und Liliputaner zählten. Auf eines aber mussten die Münchner verzichten, wie dem SZ-Vorbericht zu entnehmen ist: "Die nicht mehr zeitgemäßen Schießbuden werden durch Ring- und Ballwurfbuden vertreten sein." Die Amerikaner hatten die Schießerei verboten.

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(Foto: Fotoarchiv Otfried Schmidt/Süddeutsche Zeitung Photo)

Was aber die leiblichen Oktoberfestfreuden betrifft, sah es tatsächlich duster aus. In den zwei Festzelten servierten die Kellnerinnen lediglich Dünnbier, und die Ochsenbraterei war gar nicht aufgebaut worden, weil sie, wie der Reporter schrieb, "erst entnazifiziert werden muss". Immerhin, für 50-Gramm-Fleischmarken erhielt man eine Bratwurst. Der Herbstfestkorrespondent derNeuen Zeitung berichtete am 20. September: "Sonst gibt es noch in einzelnen Buden etwas zu trinken, wovon man naturgemäß keinen Rausch erhoffen darf: Rhabarber und Cara Molka und einen ,Sporttrunk' mit Grape-Fruit-Saft."

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(Foto: Fotoarchiv Otfried Schmidt/Süddeutsche Zeitung Photo)

Trotz dieser Zumutungen besuchten mehrere hunderttausend Menschen das Herbstfest, und 200 000 Liter Dünnbier berauschten die Trinker mehr oder weniger. In den folgenden beiden Jahren veranstaltete die Stadt wiederum nur ein Herbstfest. Erst 1949 hatte sich die Sause so weit gemausert, dass sie wieder Oktoberfest heißen durfte.

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